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NRW Jusos – Beitrag

03. März 2022

Bedingt diskussionsbereit

Zwischen Übersprungshandlungen und alten Reflexen zu neuen Positionen kommen

Eine knappe halbe Stunde hat es gedauert. Mit seiner Regierungserklärung hat Bundeskanzler Olaf Scholz jahrelang eingeübte Debatten innerhalb der SPD abgeräumt, ja für nichtig erklärt. Mit der von ihm beschriebenen Zeitenwende ging gleich auch eine 180-Grad-Wende in der sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik einher. Und obwohl es zurzeit natürlich Wichtigeres gibt, müssen wir uns in diesem Zusammenhang nicht nur als Sozialdemokrat*innen, sondern auch als Jusos grundsätzlichen Fragen widmen. Fünf Punkte für die vor uns liegende Debatte.

Punkt 1: Am Anfang steht die Selbstkritik

Zur Wahrheit gehört, dass wir uns als Jusos in den letzten Jahren den zweifelhaften Luxus geleistet haben, keine sicherheitspolitischen Debatten in der Breite des Verbandes geführt zu haben. Dabei ist es nicht so, dass wir keine Positionen zu diesem Thema erarbeitet hätten. Es ist der Arbeit unserer Internats (Genoss*innen, die für Internationalismus zuständig sind) zu verdanken, dass wir nicht blank dastehen und bei Null anfangen müssen. Aber wir haben sie bei der Erarbeitung der Positionen metaphorisch und manchmal auch buchstäblich in ein kleines dunkles Kämmerchen gesteckt.

Wir wollten als Verband in der Breite mit sicherheitspolitischen Fragen nichts zu tun haben.

Das hat in den letzten Tagen zu einer ungeahnten Breite an Meinungen geführt, teilweise innerhalb ein und derselben Person. War man in den ersten beiden Tagen des russischen Angriffskriegs in einer verständlichen Übersprungshandlung noch der Auffassung, dass ausnahmslos alles getan werden müsse, um die russische Invasion zu stoppen, konnte man nach besagter Regierungserklärung plötzlich merkwürdig alte, um nicht zu sagen altlinke Reflexe beobachten. Das sind natürlich Phänomene, die vor allem mit der wahnsinnig dynamischen und angespannten Lage zu erklären sind, aber es sind auch Belege dafür, dass niemand so richtig ‚die Juso-Position‘ kennt, die eben zum Teil auch noch erarbeitet werden muss.

Daraus ergibt sich also die erste Aufgabe: Wir müssen die sicherheitspolitischen Debatten aus der „Schmuddelecke“ ins Zentrum unserer Verbandsdiskussion holen. Wir müssen Räume schaffen, um unsere bestehenden Positionen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Weder Übersprungshandlungen noch alte Reflexe werden uns dabei helfen.

Punkt 2: Innehalten schlägt hot takes.

Die Fragen, die wir jetzt zu klären haben, sind drängend. Alles entwickelt sich wahnsinnig schnell und das setzt uns als politischen Richtungsverband natürlich unter Zugzwang. Und dennoch: Nicht alles, was sich richtig anfühlt, ist es auch. Oder genauer:

Das richtige Gefühl zu einer politischen Forderung ersetzt nicht die fundierte Begründung.

Ein Beispiel dafür dieser Tage ist die Forderung nach einer Flugverbotszone. Das klingt erstmal nach einer guten Forderung. Sie suggeriert Handlungsmacht und Konsequenz und mit ihr wird der Druck auf die politisch Verantwortlichen, ‚etwas zu tun‘, weiter hochgehalten. Aber schon mit etwas Abstand zu diesem diffus guten Gefühl entpuppt sie sich als „bad idea“. Folgerung: Innehalten und das Entwickeln von grundsätzlichen Positionen schlägt die Twitter hot takes. Der Autor des Beitrags schließt sich mit ein.

Punkt 3: Was heißt hier „antimilitaristisch“?

Olaf Scholz hat, wie oben beschrieben, jahrelang eingeübte Debatten innerhalb der SPD abgeräumt. Das müssen wir mit Blick auf die Juso-Debatten zum Glück nicht in der Konsequenz tun, aber an einer Stelle würde es schon helfen, sich ehrlich zu machen. Und diese Stelle dreht sich um das Wie-Wort „antimilitaristisch“.

Aus gutem Grund sind wir als Jusos kein pazifistischer Verband.

Das liegt, man möge mir die Verkürzung verzeihen, in erster Linie an der Erkenntnis, dass Nazi-Deutschland nicht durch gutes Zureden besiegt worden ist. Stattdessen sind wir eben ein antimilitaristischer Verband und das ist auch gut so. Man könnte nur leider manchmal den Eindruck gewinnen, dass wir selbst missverstehen, was mit diesem Begriff gemeint ist.

Antimilitarismus ist eine politische Haltung und ein theoretisches Konzept, das man zum Beispiel bei Karl Liebknecht nachlesen kann. Darauf berufen wir uns unter anderem als Verband und vielleicht bietet sich auch hier eine theoretische Aktualisierung an, die wegkommt von der reflexartigen „Bäh und Igitt-Haltung“ gegenüber der Bundeswehr, wie sie manchmal im Verband an den Tag gelegt wird. Diese Haltung erschöpft sich in maximaler Distanz zum Gegenstand der Kritik. Ähnlich wie mit den sicherheitspolitischen Fragen will man auch mit der Bundeswehr und den Soldat*innen am liebsten nichts zu tun haben.

Und so sehr ich diesen Impuls verstehen kann, weil die Bundeswehr genug Anlässe zur Kritik bietet und strukturelle Probleme aufzuarbeiten hat (rechtsextreme Netzwerke beim KSK, der Fall Franco A., das Verschwinden großer Munitionsbestände usw.), so wenig verträgt sich der Ansatz mit dem Konzept einer Parlamentsarmee. Eine solche kann nicht dauerhaft am Rand der Gesellschaft hinter den Mauern von Kasernen geparkt werden. Vielleicht liegt ja gerade in diesem Dasein auch einer der vielen Gründe für die Probleme der Bundeswehr.

An dieser Stelle will ich nur als Hinweis buchstäblich aus der Juso-Geschichte von Thilo Scholle und Jan Schwarz zitieren:

„Mit ihrer Bildungsarbeit wollten die Jungsozialisten in die Gesellschaft hinein wirken, so nahm in der zweiten Hälfte der 50er Jahre die Zusammenarbeit mit Soldaten einen breiten Raum ein. Hier ging es auch darum, das Konzept des ‚Staatsbürgers in Uniform‘ mit Leben zu erfüllen.“

(Scholle, Thilo/Schwarz, Jan: Wessen Welt ist die Welt? Geschichte der Jusos. Bonn: Dietz 2019². S. 134.)

Gewiss, das war vor der Linkswende der Jusos; man muss den historischen Kontext beachten und es ist kein Appell, diesen Ansatz in die heutige Zeit zu kopieren. Aber solange es die Bundeswehr gibt, können wir uns nicht nicht mit ihr befassen, wenn wir unsere sicherheitspolitischen Debatten weiterentwickeln wollen.

Deshalb begrüße ich es sehr, dass der Bundesvorstand die nicht ganz einfache, aber redliche Position eingenommen hat, dass es bei den zusätzlichen Verteidigungsausgaben um eine angemessene Ausrüstung geht bzw. gehen muss. Unsere grundsätzliche Forderung nach einer europäischen Armee bleibt dabei weiterhin richtig, aber zum einen müssen wir selbst noch ein Konzept entwickeln, wie diese eigentlich genau aussehen kann. Und zum anderen muss viel dringender die Frage geklärt werden, was eigentlich die Aufgabe der Bundeswehr sein soll: Wenn die Bundeswehr wieder verstärkt die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung wahrnehmen und weniger als Amtshilfe-Truppe bei Fluten oder der Pandemiebekämpfung eingesetzt werden soll, dann haben die Soldat*innen einen berechtigten Anspruch, vernünftig ausgestattet zu werden, bevor sie in Einsätze geschickt werden und ihr Leben riskieren.

Dass es zu diesem Zweck mit Geld allein nicht getan ist, sondern natürlich zunächst das Beschaffungswesen und die internen Strukturen der Bundeswehr reformiert werden müssen, versteht sich von selbst. Wenn es uns als Jusos gelingt, von der reflexhaften Abwehrhaltung wegzukommen und dieser Skizze folgend ein sachlich-kritisches Verhältnis zur Bundeswehr einzunehmen, wäre für unsere sicherheitspolitischen Debatten schon viel gewonnen.

Punkt 4: Nicht in die Irre führen lassen.

Doch bei allem notwendigen Hinterfragen unserer eigenen Debatten sollten wir uns auch davor hüten, das sogenannte Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir sollten bei der Weiterentwicklung unserer Positionen darauf Acht geben, uns unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse nicht zu Forderungen verleiten zu lassen, auf die wir in drei bis fünf Jahren zurückblicken und uns fragen, was wir damals eigentlich gemacht haben. Jede Korrektur kann auch eine Verschlimmbesserung sein. Damit wir dieser Gefahr nicht erliegen, sollten wir unser bisher geführten Debatten nicht aus den Augen verlieren, sondern sie ernst nehmen. Hedwig Richter hat das in einem unfassbar klugen Artikel in der ZEIT so formuliert: „Und doch sollte jetzt nicht die andere Lehre aus den Weltkriegen in Vergessenheit geraten: Der Frieden ist kostbar – und mit ihm sein Klima der Gendersterne und Schneeflöckchen. Wenn wir diese Friedenswelt vergessen, wenn wir ihre Diskurse dekadent nennen, hätte Putin, der Freiheitsfeind, in vielerlei Hinsicht gewonnen.“

Was heißt das für uns Jusos?

Wir müssen uns kritisch mit der 180-Grad-Wende in der sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik auseinandersetzen und uns ihr entgegenstellen, wo sie zu weit geht. Wir müssen unsere eigenen sicherheitspolitischen Debatten wie skizziert weiterentwickeln (siehe auch Punkt 5). Und wir müssen einfordern, dass die zentralen Zukunftsprojekte, zu denen sich die Ampel-Koalition als Fortschrittsprojekt verpflichtet hat, angesichts der aktuellen Lage nicht beerdigt werden. Das jetzt zu sagen, mag auf den ersten Blick zynisch wirken, aber wie Hedwig Richter es formuliert hat, wäre das Gegenteil der Fall. Wir haben diese Debatte nicht gestartet, aber wir müssen sie auch jetzt führen.

Wenn Christian Lindner an der Schuldenbremse festhalten will, Steuererhöhungen weiter ausschließt und nun durch die Blume die verabredeten und dringend notwendigen Investitionen beispielswiese in Bildung oder die Daseinsvorsorge zur Debatte stellt, dann muss er in uns die entschiedenste Gegnerin haben. Die Sozialdemokratie hat heilige Kühe geschlachtet. Nun muss auch die FDP ein Opfer bringen. Eine einseitige Aufweichung der Schuldenbremse in Form des Sondervermögens „Bundeswehr“ lehnen wir zurecht ab. Mit der Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik muss auch eine Kehrtwende in der Haushalts- und Finanzpolitik erfolgen.

Die Schuldenbremse muss abgeschafft werden.

Punkt 5: Ausblick

Zum Schluss will ich nochmal zum Anfang zurückkehren. Dort habe ich davon gesprochen, dass wir zum Glück nicht völlig blank dastehen und bei Null anfangen müssen und um das zu illustrieren und darauf aufbauend einen Ausblick geben zu können, lohnt ein Blick in das Schweriner Manifest. Dort steht:

„Gewalt und militärische Mittel sind für uns die Ultima Ratio. Aber obwohl wir versuchen, jedem Konflikt zuallererst friedlich zu begegnen, müssen wir die Existenz von Situationen anerkennen, in denen zivile Mittel der Krisenbewältigung an ihre Grenzen stoßen. Verbrechen gegen die Menschheit können Situationen sein, in denen diese letzte Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss. Ein militärischer Einsatz kann jedoch nie der Ersatz für politische Konzepte zur Lösung von Konflikten sein. Er muss immer kritisch begleitet werden. Eine aktive Sicherheits- und Außenpolitik schließt also den Einsatz von Streitkräften nicht grundsätzlich aus. Wir wollen den Einsatz militärischer Mittel weder herbeisehnen, noch ihn im Ernstfall, sofern er zur Abwendung von Verbrechen gegen die Menschheit notwendig ist, kategorisch ablehnen. Das Konzept der „Responsibility to Protect“, welches durch die Vereinten Nationen erarbeitet wurde, sehen wir durch seine Vielschichtigkeit geeignet, ein Grundpfeiler friedenssichernder Außenpolitik zu werden.“

Diese Position ist ein guter Ausgangspunkt für die nun notwendige Weiterentwicklung. An deren Anfang muss die Einsicht stehen, dass wir es in der Tat mit einer Zeitenwende zu tun haben. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert endgültig das Ende der Illusion, dass Frieden in Europa allein durch Verträge gesichert werden kann. Das heißt im Umkehrschluss übrigens nicht, dass plötzlich doch Waffen Frieden schaffen oder dass Abrüstungsbemühungen obsolet geworden wären.

Aber Frieden ist an Voraussetzungen geknüpft.

Der Einsatz militärischer Gewalt bleibt ultima ratio. Das heißt aber nicht, dass militärische Macht erst dann relevant wird, wenn die Diplomatie keine Chance mehr hat. In einer Situation, in der ein Akteur wie der russische Präsident militärische Gewalt wieder als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln begreift und Grundprinzipien unserer Vorstellung einer gemeinsamen Sicherheitsordnung (Unverletzlichkeit der Grenzen, Geltung des Völkerrechts, freie Bündniswahl usw.) mit Füßen tritt, ist die eigene Verteidigungs- und Wehrfähigkeit die Voraussetzung dafür, dass Diplomatie wieder zu ihrem Recht kommt. Und mit ‚eigener Verteidigungs- und Wehrfähigkeit‘ ist nicht gemeint, dass jede Nation individuelle Aufrüstung betreiben sollte. Zurecht löst die Vorstellung Deutschlands als größter Militärmacht Europas mindestens Unbehagen aus. Es ist daher nicht die Zeit für sicherheitspolitische Alleingänge und individuelles Hochrüsten.

Im Gegenteil: Die Antwort auf die russische Aggression kann nur mehr Kooperation in der Friedens- und Sicherheitspolitik bedeuten. Daher müssen jetzt konkrete Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik inklusiver einer europäischen Armee unternommen werden. Oder wie es die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung geschrieben hat: „Das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein. Im Gegenteil muss er der Beginn eines neuen Nachdenkens über die Zukunft einer europäischen und globalen Friedensordnung sein.“

Als Jusos müssen wir uns genau an diesem Nachdenken unter den neuen Bedingungen wieder stärker beteiligen.


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