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NRW Jusos – Beitrag

21. April 2020

Opfer des Neoliberalismus: Corona und die Folgen der Austeritätspolitik

Die Corona-Pandemie und die Shutdowns vieler Industriestaaten haben den Neoliberalismus in eine tiefe Krise gestürzt. Blicken wir auf das Gesundheitswesen, werden uns die Folgen dieser Krise nun schmerzlich vor Augen geführt. In den südeuropäischen Mitgliedsstaaten der EU überschreitet die Zahl schwerer Krankheitsverläufe schon lange die Kapazitäten der medizinischen Versorgung. Infolge dessen sind in Italien und in den letzten Wochen teilweise 1.000 Menschen an einem Tag am Virus gestorben. Und obwohl die Versorgungslage in Deutschland noch gut zu sein scheint, macht sich auch hier bemerkbar, wie sehr das Gesundheitssystem auf größtmögliche Wirtschaftlichkeit getrimmt wurde. Es gibt Materialengpässe und das Pflegepersonal sowie die Ärzt*innen arbeiten am absoluten Limit.

Doch ist die Situation in den Ländern am schlimmsten, die von der Austeritätspolitik nach der Eurokrise am stärksten betroffen waren. Hier sind die Schwächen des Gesundheitssystem nämlich nicht nur Folge eines Ökonomisierungstrends, sondern von einem radikalen Kahlschlag in der öffentlichen Daseinsvorsorge wesentlich verstärkt worden. Um den Staatsbankrott abzuwenden, hat man sich damals gegen den Weg der europäischen Solidarität entschieden. Stattdessen predigte die Troika aus EZB, IWF und Kommission unter Rückendeckung der Regierungen der Mitgliedsstaaten den betroffenen Ländern „Enthaltsamkeit“, was für einen Staatshaushalt nichts anderes als Privatisierung und Gewinnmaximierung bedeutet. Es wurde ein Frontalangriff gegen den Wohlfahrtsstaat gefahren. Dieser brachte sehr viele Verlierer*innen und nur wenige Gewinner*innen hervor.

Die konkreten Auswirkungen lassen sich am Beispiel des spanischen Gesundheitssystem gut erkennen. Hier setzte der Privatisierungstrend bereits in den 90er-Jahren ein und traf zuerst die lokale Krankenhausinfrastruktur. Unter dem Spardiktat der Troika wurden dann die Ausgaben für das Gesundheitswesen zwischen 2009 und 2017 um knapp 15 Mrd. Euro gekürzt. Dadurch verloren knapp 10.000 Ärzt*innen ihre Stelle. Ein nicht unerheblicher Teil wurde danach von deutschen und skandinavischen Krankenhaus-Betriebsgesellschaften angeworben.

Die Behauptung, dass Spanien große Einsparungen ohne Beeinträchtigung der medizinischen Versorgungslage geschafft hat, entpuppt sich als lächerliche Lüge. 2015 forderte der Rat der Europäischen Union mit Bezug auf die spanischen Reformprogramme, wörtlich: „Verbessern Sie die Effizienz des Gesundheitssektors und rationalisieren Sie die Krankenhausausgaben für Medikamente.“ So wird ein Gesundheitssystem auf Sparflamme geschaltet.

In Spanien kommen rund 100.000 Menschen auf 300 Betten. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 830 Betten. In der Region Madrid sind nur noch 30 Prozent der Kliniken staatlich, der Rest ist privatisiert und in den Händen von Investor*innen oder privaten Krankenversicherungen.  Mit Blick auf die deutsche Krankenhauslandschaft ist hier eine begriffliche Abgrenzung notwendig, da das System der Krankenversorgung ein anderes ist. Denn zwar sind auch bei uns die Krankenhäuser mehrheitlich in privater Hand und arbeiten gewinnorientiert. Sie erbringen aber trotzdem Kassenleistungen für gesetzlich Krankenversicherte. Die Krankenhäuser hingegen, die in Spanien in privater Hand sind, erbringen ihre Leistungen nur für die entsprechend privat Krankenversicherten. Für die Spanier*innen sind sie unverzichtbar, weil sie Leistungen erbringen, die in der Grundversorgung der staatlichen Kliniken nicht vorgesehen sind. Deshalb haben viele von ihnen eine zusätzliche private Krankenversicherung.

Ihrer Verantwortung werden diese privaten Kliniken in der aktuellen Situation nicht im Ansatz gerecht. Nicht wenige von ihnen sind geschlossen, weil „normal erkrankte“ Patient*innen – die Bezeichnung „Kund*innen“ wäre hier wohl treffender – fehlen. Die Policen der Privatversicherten enthalten nämlich eine Klausel, die in den für sie zuständigen Privatkliniken keine medizinischen Leistungen infolge von Epidemien oder Pandemien vorsieht. Erst das Notstandsgesetz der Regierung nahm die Kliniken in die Pflicht, trotzdem werden von ihnen derzeit nur 10 Prozent der Infizierten versorgt. Den Rest übernehmen die staatlichen Krankenhäuser.

In den staatlichen Klinken nebenan kämpft das Personal währenddessen um das Überleben von Corona-Erkrankten. Erst in der vergangenen Woche gaben sieben medizinische Fachgesellschaften in Deutschland Handlungsempfehlungen heraus, anhand derer Mediziner*innen im Extremfall entscheiden sollen, wen sie beatmen sollen. Dieser Extremfall ist in anderen EU-Mitgliedsstaaten wie Spanien längst Alltag. Auch aus Italien und Frankreich häufen sich Berichte darüber. Diese Toten sind Opfer und das Ergebnis von über einem Jahrzehnt neoliberalen Sparzwanges.

In diesen Tagen wird viel über Solidarität gesprochen. Darüber, dass unser Gesundheitswesen als systemrelevante Branche – wenn nicht sogar die systemrelevante Branche – nicht den Regeln des Marktes überlassen und auf Wirtschaftlichkeit getrimmt werden darf. Dass die Worte von denen kommen, die über Jahre hinweg das genaue Gegenteil getan haben, ist blanker Hohn. Ich kann ihnen diese Lippenbekenntnisse nicht abnehmen. Wie widersprüchlich ihr Solidaritätsverständnis ist, zeigt derweil Wolfgang Schäuble im Interview mit der ZEIT: Einerseits fordert er die größtmögliche Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten, andererseits lehnt er aber entsprechende finanzpolitische Instrumente wie Eurobonds ab.

Umso wichtiger ist es, dass die progressiven Kräfte in Europa den Solidaritätsgedanken über die Krise hinaus am Leben erhalten. Es braucht ein radikales Umdenken in der EU. Dass die Eurobonds nun ihre politische Renaissance erleben, müssen wir nutzen. Die Europa-SPD ist unsere Stimme im Europäischen Parlament, die das Thema nun auf die Tagesordnung gebracht hat. Wir müssen dafür sorgen, dass Zuständen, wie wir sie in den südeuropäischen Mitgliedsstaaten vorfinden, mit einem ausreichend finanzierten öffentlichen Sektor effektiv entgegengewirkt wird. Der solidarische Neuanfang muss aus dem Einbahnstraßen-Denken hinauswachsen. Für ein Europa, das Wohlstand für die Vielen, statt für einige Wenige garantiert. Ein Europa, das Solidarität in guten und schlechten Zeiten lebt.


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