NRW Jusos – Blog
Europäische Bildungsträume: Zwischen Freiheit und Frustration
Madita Fester (29) ist Juso und Kandidatin aus NRW für das Europa-Parlament. Ihr Motto: „Europa kann mehr!“ Joshua Wienen (22) ist kooptiert im Landesvorstand der NRW Jusos und Teil der Landeskoordinierung der Juso-Hochschulgruppen. In ihrem gemeinsamen Beitrag blicken sie auf Europäische Bildungsträume und darauf, wie Bildungswege in Europa in Zukunft besser und gerechter werden können:
Jährlich werden in der EU mehr als 600 Milliarden Euro in Bildung investiert. Jedoch sind diese Ausgaben sehr ungleich verteilt und finden in den staatlichen Unterschieden Ausdruck. Trotz der großen Vorhaben der EU spielt der sozioökonomische Hintergrund der Schüler*innen immer noch eine große Rolle. Die Bildung kann also sehr gut sein, die Chancen auf Bildung sind hierbei jedoch sehr unterschiedlich verteilt.
Bildungspolitik ist in der EU vor allem nationalstaatliche Aufgabe. Dennoch werden seit den 1980ern Institutionen, Inhalte und Prozesse innerhalb der europäischen Bildungssysteme auch auf europäischer Ebene mitgestaltet. In diesem Zuge kam es zur Einführung von ERASMUS oder COMETT für Berufsbildungen. Die Kompetenzen der EU im Bereich Bildung wurden maßgeblich durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Lissabon festgelegt. Man einigte sich einerseits auf eine ausschließliche Lenkungsaktivität und entschied sich gegen Harmonisierungsversuche. Dennoch beschloss man, alle Bereiche des Lebens beim Thema Bildung mitzudenken – von der Vorschule bis zum Lernen in Beruf und Freizeit sowie Schwerpunkte beim Wissensaustausch. Das Ziel ist es, die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.
Ein Teil dieses Vorhabens ist auch die bessere Vergleichbarkeit von Studiengängen und Abschlüssen. Dazu hat man 1999 europaweit den sogenannten Bologna-Prozess gestartet. Das Ziel war und ist es, europaweit vergleichbare Hochschulsysteme zu schaffen. Dazu gehörten die Einführung von Credit-Points und eine Angleichung des zeitlichen Rahmens eines Studiums. Das führte zu einem verstärkten Leistungsdruck und einer zunehmenden „Verschulung” des Studiums.
Damit rücken eigenständige Forschung und Wissensvertiefung in den Hintergrund, weil dafür schlichtweg keine Zeit mehr bleibt – weder bei Studierenden noch bei Lehrenden und Forschenden. Hauptsache, Studierende kommen nach einem Abschluss – dieser möglichst in Regelstudienzeit – schnellstmöglich auf den freien Arbeitsmarkt. Diese Priorisierung kommt auch dann zum Vorschein, wenn man sich die prekären Arbeitsbedingungen für studentische Hilfskräfte, Promovierende und PostDocs (Wissenschaftler*innen, die nach Beendigung einer Promotion den Doktorgrad erlangt haben und nun an einer Universität oder einem Forschungsinstitut befristet tätig sind) anschaut. Die Arbeitsbedingungen in Lehre und Forschung sind insgesamt wenig attraktiv.
ERASMUS: Freie Fahrt für reiche Studis?
Wenn man Studierende fragt, welchen Vorteil die EU für Studierende hat, wird meist das ERASMUS-Programm genannt. Auslandsaufenthalte, neue Erfahrungen, Horizonterweiterungen – toll. In begrenztem Maße ist ERASMUS auch für Auszubildende möglich. Das deutsche Ausbildungssystem ist jedoch mit keinem System in Europa vergleichbar. Die Anrechnung von Praxis und Theorie gestaltet sich noch einmal schwieriger als beim Studium.
Auch in der Ausbildung können Auslandsaufenthalte sinnvoll sein und müssen unterstützt werden.
ERASMUS und seine Erweiterung ERASMUS+ sind grundsätzlich ein gutes Projekt und verdienen auch aus jungsozialistischer Perspektive unseren Support. Dazu gehört aber auch, konstruktiv zu seiner Verbesserung beizutragen. Was häufig kritisiert wird, sind die finanziellen Hürden. Zwar wird ein Teil der Kosten durch ERASMUS finanziert. Alle weiteren Kosten, die für Studium, Ausbildung, Unterkunft und Verpflegung anfallen, schrecken aber weiterhin viele ab. Ein Großteil kommt dadurch nicht in den Genuss eines Auslandsaufenthaltes. Vor allem für Menschen aus Nicht-Akademiker-Haushalten stellt es eine große Herausforderung dar, sich durch Portale, Dokumente und Formulare zu navigieren, um überhaupt an dem Programm teilzunehmen. Ihnen fehlt oftmals die Hilfe von zu Hause.
Eine umfassendere Finanzierung des ERASMUS kann dazu beitragen, jene Hürden abzubauen. Alle, die während ihres Studiums oder der Ausbildung einen Auslandsaufenthalt absolvieren wollen, sollten das tun können. Unzählige jungen Menschen, die es sich sonst aus finanziellen Gründen nicht leisten können, wird so die Möglichkeit gegeben, neue Erfahrungen zu sammeln, die ihnen sonst vorenthalten werden würden. Eine Öffnung des Programms stärkt außerdem das Recht auf Freizügigkeit, einer der Grundpfeiler der EU. Gleichzeitig wäre es ein starkes Signal der EU, jungen Menschen zu zeigen, was sie zu bieten hat. Das ersetzt natürlich keine gerechte Sozial- und Bildungspolitik, liefert aber einen direkten und bereichernden Einfluss der EU auf das eigene Leben. Mit dem derzeitigen Finanzierungsmodell ist diese Vision noch in weiter Ferne.
Ist The Best noch yet to come?
Ende März 2024 stellte die Europäische Kommission ihre Pläne für einheitliche europäische Hochschulabschlüsse vor. Unis sollen hier EU-weit ausgewählte und einheitliche Studiengänge anbieten, die dann in allen beteiligten Staaten anerkannt werden. Hat man sich hier ein ambitioniertes Ziel vorgenommen, ist es doch wichtig darauf zu schauen, dass solche Studiengänge allen Studierenden und nicht nur denen aus gutem Hause zugänglich gemacht werden. Hohe NC-Hürden (Numerus Clausus) tragen heute schon in vielen Fällen dazu bei, dass jungen Menschen die Erfüllung ihrer Träume verwehrt bleibt. Diesen Fehler dürfen wir nicht auch noch nach Europa exportieren. Die Mitgliedstaaten können über ihre eigene Gesetzgebung entscheiden, ob sie sich beteiligen. Dadurch besteht auch das Risiko, einen europäischen Flickenteppich entstehen zu lassen. Nicht alle EU-Staaten haben die gleichen finanziellen Kapazitäten wie die eher wohlhabenderen Staaten West- oder Nordeuropas.
Zudem muss hier sichergestellt werden, dass auch gemeinnützige Hochschulen, die nicht von nationalen Regierungen finanziert werden, von dem Programm profitieren. Denn auch hier gilt: gute und europäische Bildung darf keine Frage des Studienortes sein.
Bis 2025 hat sich die EU noch einiges vorgenommen. Die Bildungssysteme in der EU sollen gerechter und vergleichbarer werden. Ein 2020 vorgestellter Bericht zeigte auf, dass in den jeweiligen Ländern große Unterschiede insbesondere in den weiterführenden Schulen existieren. Wer die Schule nicht beendet, droht eher Gefahr, in Armut zu leben. Insgesamt zeigt der Bericht auf, dass immer noch ein enger Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und den schulischen Leistungen besteht.
Im selben Jahr hat sich die Kommission vorgenommen, Bildung und Ausbildung zu verbessern. Kompetenzen im Bereich Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft sollen verbessert, die Bildung digitaler gestaltet, Investitionen erhöht und die Zusammenarbeit intensiviert werden. In der EU soll nicht nur jeder die Möglichkeit bekommen eine gute Grund- und Sekundarbildung erhalten, sondern auch die Abbrecherquote muss auf unter 10 Prozent fallen. Um Jugendarbeitslosigkeit und den Fachkräftemangel zu mindern, soll nach der Schule innerhalb von vier Monaten die Möglichkeit bestehen, in Ausbildung zu treten – und das in ganz Europa. Denn schlechte Bildung und Ausbildung mindert die wirtschaftlichen Zukunftschancen immer noch extrem.
Fazit
Abschließend lässt sich also sagen: Bildung und Wissenschaft liegen nicht im Kompetenzbereich der EU. Dennoch will man über die Regierungen und Parlamente der einzelnen Mitgliedsstaaten einen Weg der stetigen Angleichung und gemeinsamen Koordinierung gehen. Diese Schritte müssen von Sozialdemokrat*innen im Europäischen Parlament, in den nationalen Parlamenten und in den Regierungen gestaltet und von uns Jusos kritisch-solidarisch beobachtet werden.
Es gab eine Zeit, in der Menschen an das Aufstiegsversprechen durch Bildung geglaubt haben. Dieses Versprechen ist der Gewissheit gewichen, dass Bildung, ob in der Grundschule oder in der Universität, primär vom eigenen Geldbeutel oder dem der Eltern abhängig ist. Dass es so weit gekommen ist, ist auch unsere Mitschuld. Europa gibt uns eine gewisse Chance, diesen schweren Fehler wieder rückgängig zu machen. Zu schaffende Europäische Abschlüsse müssen grundsätzlich für alle zugänglich sein. Europäische Auslandssemester sollen für alle bezahlbar sein und Ausbildungen, Diploma und Studium überall anerkannt werden. Wer einen europäischen Arbeitsmarkt möchte, muss eben jene bürokratischen Hürden abbauen, die grenzüberschreitendes Arbeiten und Studieren unnötig kompliziert machen. Die Bildungssysteme in Europa stehen noch heute in einer neoliberalen Tradition, die nur jenen gute Bildung und Ausbildung ermöglichen, die einen sozioökonomischen Vorteil haben. Die EU kann ein effektives Mittel sein, diesem Trend entgegenzuwirken. Doch dafür braucht es linke, soziale und progressive Mehrheiten in Europa und junge, linke Stimmen, die sich für gute Bildung stark machen. Das Thema Bildung zeigt einmal mehr: dieser Europawahlkampf entscheidet darüber, wie wir in Zukunft Menschen aus der Armut holen und ihnen faire Chancen eröffnen.