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NRW Jusos – Beitrag

14. Juli 2021

Sippenhaft: Wie viel Familie verträgt gerechte Sozialpolitik?

Die Familie ist in Deutschland kulturell und politisch ein Dreh- und Angelpunkt. Der erste und oft auch letzte Bezugspunkt von Menschen, ein Ort wo im Idealfall Verantwortung füreinander übernommen wird. Die Begriffe ‚Bezugspunkt‘ und ‚Verantwortung‘ sind eigentlich auch schon Kern dieser (und meiner persönlichen) Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung das Konstrukt Familie in politischen Maßnahmen haben sollte. Überspitzt geht es um die Frage: Wollen wir, dass Absicherung individuell erfolgt, oder finden wir es (in Teilen) auch wünschenswert, dass Menschen in kleineren Einheiten – wie etwa in der Familie – Verantwortung füreinander übernehmen? Sollte „Familie“ für den Staat in seiner Sozialpolitik zentrale Kategorie sein? Oder sollte der Mensch, auch als Kind, als Individuum im Mittelpunkt stehen?

Das Problem: Nicht jede/jeder hat oder will „Familie“, der Staat geht aber davon aus.

Probleme entstehen zum einen dort, wo sich der Staat auf die Sorge untereinander verlässt und sich aus der Verantwortung zieht. Dass das vor allem für Frauen und gleichstellungspolitische Bestrebungen kontraproduktiv ist, haben wir im Rahmen des feministischen Sozialstaats schon häufig diskutiert (Argumente-Artikel: „Sorgt euch!“). Und auch so ist die politisch gewollte und gesellschaftlich erwartete Bindung an Familie für viele Menschen ein Problem, weil in Familien eben auch schmerzliche Erfahrungen gemacht werden, emotionale Vernachlässigung bis hin zu seelischer oder sogar physischer Gewalt passiert. Familie kann sich für viele Menschen als ungesunder Ort darstellen und dennoch die Ablösung von ihr auf Grund emotionaler oder ökonomischer Abhängigkeit zur Unmöglichkeit werden. Die Pandemie hat genau dieses Problem noch einmal aufgezeigt, weil Menschen durch die Beschränkungen entweder die Wahl hatten, sich mit dem engsten Familienkreis zu treffen oder alleine zu bleiben (• Infografik: So dürfen Sie Weihnachten (nicht) feiern | Statista), weil vorausgesetzt wurde, dass die Kernfamilie für alle Menschen der wichtigste Ort ist.

Wie unabhängig sollen Zukunftschancen von Kindern sein von ihrer Familie?

Aber zurück zur Frage, wieviel Ablösung vom Familienkonstrukt wir wollen. Wieviel Einfluss sollen Familien beispielsweise auf die Erziehung von Kindern haben können? Inwiefern fördern wir die sogenannte „Institutionenkindheit“, bei der Kinder möglichst früh in Institutionen, z.B. KiTas betreut und Eltern einer Erwerbsarbeit nachgehen können?  Bildungsbenachteiligung wird dadurch womöglich früh ausgeglichen, aber beim aktuellen Personalschlüssel in Kitas kann von bindungsorientierter Erziehung wohl kaum die Rede sein.

Es geht auch um die Frage, an welcher Stelle Familien in unserer Gesellschaft noch Privilegien eingeräumt werden sollen. Schaut man sich die sozialpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre an und das, was beispielsweise die SPD oder wir als Jusos fordern, ist die Lage klar: Wir wollen, dass der Staat Menschen zuallererst als Individuen ansieht und absichert, und erst dann als Teil einer Familie. Das ginge beispielsweise mit einer Kindergrundsicherung und elternunabhängigem BAföG. Gleichzeitig trennen wir uns aber nicht von der Vorstellung, dass es in Ordnung ist, zufällig in eine Familie reingeboren zu sein, in der Eigentum existiert, das zumindest teilweise geerbt wird. 

Was die Theorie sagt: Aktuell ist in unserem Sozialstaat „Familie“ zentrale Kategorie

Aber erst mal ein bisschen theoretischer Hintergrund. In der BRD ist vieles nach dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip geordnet. Der Grundgedanke, dass die kleinstmögliche Einheit Verantwortung übernehmen muss, stammt aus der christlichen Soziallehre. Der Staat greift erst dann ein, wenn kleinere Einheiten (was nach der Familie aber auch erst mal Träger und wohlfahrtsstaatliche Organisationen sein können) Aufgaben nicht mehr selbst bewältigen können.

Für übergeordnete Ebenen wie die EU bedeutet das, dass sie nur dann tätig werden darf, wenn die Mitgliedsstaaten nicht ausreichend handeln und politische Ziele nur gemeinschaftlich erreicht werden können. Das Subsidiaritätsprinzip so auch auf sozial- bzw. familienpolitischen Leistungen anzuwenden folgt einem Muster, das man Familialismus nennt und in dieser Form auch in den Niederlanden, Belgien und Österreich zu finden ist.

Es wird vom Familialismus gesprochen, wenn der Wohlfahrtsstaat explizit auf in Familien geleistete Pflege- und Betreuungsaufgaben zurückgreift. (Fuchs S. (2014) „Nachhaltige Familienpolitik“ – Defamilialisierung als Paradigmenwechsel. In: Gesellschaft ohne Kinder. Springer VS, Wiesbaden)

Familie kann schön sein – als politische Kategorie sich aber problematisch auswirken

Das System der Vor- und Fürsorgemechanismen ist hier darauf zugeschnitten, die Pflege- und Betreuungsfunktion der Familie zu stärken. Damit einher geht ein in der christlichen Soziallehre begründetes Leitbild, das impliziert, dass bestimmte Aufgaben am besten in der Familie verbleiben.

Das ist eine Tradition und das haben wir als NRW Jusos schon viel im Zusammenhang mit dem Stellenwert von privat verrichteter Carearbeit diskutiert, die dem Kapitalismus gut in den Kram passt. Arbeit wird kostenlos verrichtet und mit einer familialistischen Sichtweise kann sie dann auch als „Arbeit aus Liebe“ (Frauen und Wissenschaft: Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Arbeit aus Liebe Liebe als Arbeit: Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus) bewertet werden, der man sonst keine ausgleichenden sozialpolitischen Leistungen entgegenbringen muss. Aber weder um Carearbeit noch um Kapitalismus soll es hier explizit gehen. Sondern um die Frage, wie sehr sich Sozialpolitik auf das Konstrukt Familie verlassen darf oder sollte. 

Als Staat das Individuum in den Blick nehmen – gängig, aber in der BRD lange vernachlässigt

Defamilialisierung ist, wie die Wortzusammensetzung schon vermuten lässt, das Gegenteil. Also die politisch gewollte und gesteuerte Auslagerung dieser Carearbeiten an Dritte beispielsweise durch zunehmende Kinderbetreuung. Schaut man sich die sozialpolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland an, so lässt sich seit der Wiedervereinigung zwar ein Trend zu Defamilialisierung erkennen, dieser ist aber keineswegs stringent. Während in den 1980er Jahren Erziehungsgeld im internationalen Vergleich noch als progressive Leistung galt, während in der DDR eine gut ausgebaute Betreuungsinfrastrukur an der Tagesordnung war, versuchte die BRD mit familienpolitischen Maßnahmen in diese Richtung aufzuholen.

Auch die EU forderte seitdem eine sozialinvestive Arbeitsmarkt- und Gleichstellungspolitik, die zum Ziel hat, Familienmitglieder sozialpolitisch zu individualisieren. Kinder sollen in öffentlichen Institutionen betreut und die Erwerbsbeteiligung von Frauen gesteigert werden. Im familienpolitischen Leitbild ist das ein Wendepunkt, weil ab dem Zeitpunkt, wo die intensive institutionelle Betreuung als anerkannt gilt, die Institution Familie ihre Kernkompetenz verliert und damit auch nicht mehr gerechtfertigt werden kann, sie zu privilegieren. Theoretisch gilt seitdem ein Leitbild von Familie, als „Verantwortungsgemeinschaft mindestens zweier Generationen“. (Fuchs S. (2014) „Nachhaltige Familienpolitik“ – Defamilialisierung als Paradigmenwechsel. In: Gesellschaft ohne Kinder. Springer VS, Wiesbaden.)

Familie für alle die möchten, soziale Unterstützung aber für Menschen als Individuum!

Tja und was bedeutet das jetzt für jungsozialistische Politiken? Ich würde sagen, sich grundsätzlich am optionalen Familialismus zu orientieren, wie es in den so gelobten skandinavischen Ländern der Fall ist. Niemand will Familien als Rückzugsraum angreifen; Gesellschaften sind so aufgebaut, dass es einige sehr vertraute Menschen im Umfeld geben kann, die häufig auch die Kernfamilie ist. Und das ist auch okay so.

Aber dann müssen wir auch so konsequent sein und die neue Definition von Familie als „Verantwortungsgemeinschaft mindestens zweier Generationen“ politisch durchziehen. Maßnahmen, die getroffen werden, müssen für die unterschiedlichsten Formen von Familie gelten und sich eben nicht an „Mutter-Vater-Kind“ orientieren. Welche Privilegien eine Ehe haben sollte oder nicht muss an anderer Stelle noch mal diskutiert werden, aber sie sollte mit familienpolitischen Maßnahmen grundsätzlich erst mal nichts zu tun haben. Es muss konkret um die politische Berücksichtigung von Geschlechtergerechtigkeit auf der einen und die Berücksichtigung von Kindern als eigenständige Mitglieder der Gesellschaft (und nicht nur Teil einer Familie) auf der anderen Seite gehen. Steuersystem und die soziale Sicherung müssen ans Individuum geknüpft sein. Konkret bedeutet das dann z.B. auch die Auflösung von Bedarfsgemeinschaften in der Grundsicherung wie auch das von der SPD anvisierte Familiensplitting.


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