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NRW Jusos – Beitrag

29. April 2020

Systemrelevant und systemisch schlecht bezahlt

In kaum einer TV-Sendung, einem Zeitungsartikel oder einem Radiobeitrag über die Corona-Krise fehlte dieses Wort: Systemrelevant. Damit werden Arbeitnehmer*innen beschrieben, die für das Funktionieren unseres Staates eine so bedeutende Rolle einnehmen, dass sie auch und besonders in Krisenzeiten ausgeübt werden müssen. Die Gesellschaft ist auf diese Tätigkeiten angewiesen. Oder wie man im Ruhrpott sagen würde: Die halten den Laden am Kacken.

Dass diese Jobs meistens schlecht bezahlt werden, ist kein Geheimnis. War es auch schon vor der Krise nicht. Nur Apotheker*innen und Ärzt*innen können sich gehaltsmäßig von der Gruppe absetzen. Aber warum sind die Löhne so wie sie sind? Wie kommen sie zustande? Um das besser zu verstehen, hilft das Einnehmen von volkswirtschaftlichen, betriebswirtschaftlichen und sogar arbeitspsychologischen Perspektiven.

Volkswirtschaftlich betrachtet geht es wie so oft um das Modell von Angebot und Nachfrage. Auf dem sogenannten Faktormarkt bieten Menschen, die arbeiten wollen, ihre Arbeitskraft an und Unternehmen/Organisationen, die Arbeitskraft suchen, fragen diese nach. Aus diesem Wechselspiel ergibt sich dann der Preis der Arbeit, also der Lohn. Niedrige Löhne lassen demnach auf ein hohes Angebot bei geringer Nachfrage schließen; hohe Löhne resultieren aus geringem Arbeitsangebot und hoher Nachfrage. Dabei wird dieses Modell in der Realität an vielen Stellen widerlegt. Es gibt eine hohe Nachfrage nach Pflegearbeit bei einer zu geringen Anzahl an Pfleger*innen. Trotzdem fällt der Lohn sehr gering aus. Neoliberale Politiker*innen und angebotsorientierte Ökonom*innen würden dennoch von (starken) staatlichen Eingriffen in den Faktormarkt abraten.

Aus betriebswissenschaftlicher Sicht sind Löhne ein Teil der Ausgaben, welche so von den Einnahmen gedeckt sein müssen, dass keine Schulden (das Phänomen ruinösen Wettbewerbs ausgeklammert) und im besten Fall Gewinne anfallen. Um Anhaltspunkte zu haben, wie die Löhne innerhalb eines Unternehmens strukturiert sein sollten, kann der Output herangezogen werden. Dabei wird – vereinfacht gesagt – versucht auszurechnen, welchen durchschnittlichen Anteil an den Einnahmen auf die einzelnen Arbeitsbereiche oder Arbeitsstellen zurückzuführen sind. Bei der Produktion von Gütern kann beispielsweise gemessen werden, wer die Ware wie lange bearbeitet hat und dies in Relation zum Warenwert gesetzt werden. Aber was ist, wenn das „produzierte Gut“ die Gesundheit von Menschen ist? Ist es möglich diese zu quantifizieren? Und viel wichtiger: Ist das ethisch vertretbar? Sollten für Krankenhäuser die gleichen Maßstäbe angelegt werden wie für Unternehmen?

In der angewandten Arbeitspsychologie gibt es das Instrument der Arbeitsanalysen, welches in mehreren Schritten Tätigkeiten von Arbeitnehmer*innen oder Führungskräften systematisch untersucht. In der Analyse werden die Tätigkeiten in ihre Bestandteile zerlegt und aufgeschlüsselt. Dann werden diese anhand von fest definierten Kriterien bewertet und daraus folgend Diagnosen und Prognosen erstellt. Einerseits wird dies für personalpsychologische Entscheidungen und Maßnahmen genutzt, zum Beispiel zur Personalentwicklung, sowie für Arbeitsgestaltungs- und Organisationsstrukturierungsmaßnahmen. Andererseits dienen die Arbeitsanalysen auch zur kriterienbasierten Lohn- und Entgelt-Festlegung. Kriterien, die dabei angesetzt werden können, sind beispielsweise das Anforderungsniveau, die Belastungsintensität oder die Komplexität der auszuführenden Tätigkeiten. Diese Liste kann (beliebig) erweitert werden und die Grundlage einer Rating-Skala bilden. Jobs, die besonders fordernd, besonders belastend und besonders komplex sind, sollen ausgehend davon besser bezahlt werden als solche, auf die diese Kriterien nicht zutreffen.

Das wirft Fragen auf. Die Arbeit von Kassierer*innen ist nicht komplex. Die Arbeit von Berufskraftfahrer*innen ist eher monoton als herausfordernd. Aber ist das schlecht? Sollten sie deswegen weniger hoch vergütet werden? Ist es nicht ein erstrebenswertes Ziel, dass Arbeit möglichst wenig belastend sein sollte?

Das Problem sind also nicht die Analysen an sich, sondern die normativen Urteile, die bei der Bewertung der Tätigkeiten zugrunde liegen. Egal wie stark ausdifferenziert und wie professionell eine Analyse durchgeführt wird, in der Bewertung stecken Vorstellungen von der Wertigkeit unterschiedlicher Aufgaben. Die Definition, was eine komplexere Tätigkeit ist oder die Analyse, wofür ein höherer Bildungsabschluss nötig ist, kann objektiv getroffen werden. Warum aber das eine mit mehr Geld vergütet werden soll als das andere, ist ein Werturteil. Denn umgekehrt kann ich fragen: Wenn für das Funktionieren einer Organisation (eines Systems) alle Menschen benötigt werden, warum werden einige dann so viel besser/schlechter bezahlt als andere? In der Krise ist deutlich geworden, dass Leistung und Mehrwert keine geeigneten Maßstäbe sind, um die Relevanz von Jobs zu bewerten.

Nun könnte man anmerken, dass aus jungsozialistischer Perspektive, aufgrund der Werte und Normen, die wir vertreten, allen Menschen gute Arbeitsplätze zustehen. Dazu gehört neben Wertschätzung zwingend auch so viel Gehalt, dass davon ein Leben ohne permanente Geldsorgen geführt werden kann. Aber das ist an dieser Stelle nicht der Punkt, denn dabei geht es eher um Untergrenzen der Vergütung als um die Verhältnismäßigkeit von Gehältern.

Die Analyse der Vergütung der systemrelevant genannten Berufe macht etwas anderes deutlich. Grundsätzlich ist es nicht falsch, wenn Aspekte wie Anforderungen und Verantwortung mit in die Entgeltfestlegung einfließen. Aber es können nicht die wichtigsten und alles entscheidenden Kriterien sein. Der Blick dafür, was für eine Gesellschaft relevant ist und wie aufgrund dessen Gehälter und Löhne ausgestaltet werden, muss geweitet werden. Wir brauchen viel mehr Kriterien.


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