mitmachen

NRW Jusos – Magazin

20. Mai 2024

Was fehlt uns zur perfekten Arbeitsmarkt-Utopie?

ARBEIT EUROPÄISCH GEDACHT – WAS FEHLT UNS ZUR PERFEKTEN ARBEITSMARKT-UTOPIE?

Im Allgemeinen ist es für die deutsche Gewerkschaftsbewegung oft schwierig, vorrangig über Europa zu diskutieren, da eine Angleichung der Standards oder eine stärkere ordnungspolitische Kompetenz in Europa aus Arbeitnehmerinnensicht oft zu schlechteren Bedingungen als in Deutschland führen kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Arbeitsbeziehungen und die Einbindung der Sozialpartner*innen grundlegend neu aufgebaut. Das hochgradig kooperative System in Deutschland, das gewerkschaftliche Mitbestimmung in der beruflichen Bildung, der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sowie besonders geschützte Rechte der Gewerkschaften umfasst, wurde eingeführt und bleibt in dieser Form weltweit einzigartig. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in anderen stark mitbestimmten Ländern, wie denen des skandinavischen Raums: eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Lande durch europäische Regelungen darf es nicht geben!

Die deutschen Gewerkschaften und ihre Jugendorganisationen haben stets für eine bessere Europäische Union gekämpft, um allen Arbeitnehmer*innen in Europa gute Arbeitsbedingungen, Ausbildungsmöglichkeiten und Mitbestimmung zu ermöglichen.

Dies soll durch die Nutzung der besten Regelungen als Referenz und eine schrittweise Angleichung der Arbeitsbeziehungen nach oben in Zusammenarbeit mit nationalen Verbänden erreicht werden. Dafür sind europäische Rahmenbedingungen erforderlich. Ein erster Schritt kann darin bestehen, dass die Kapitalseite zu Verhandlungen über grenzüberschreitende Regelungen verpflichtet wird, wenn die nationalen Gewerkschaftsverbände dieses einstimmig einfordern. Die Gewerkschaften könnten so thematisch zwischen der nationalen und der europäischen Verhandlungsebene wählen, um sowohl nationale Verbesserungen innerhalb der aktuellen wirtschaftlichen Realität zu erreichen als auch Lösungen auf europäischer Ebene für Themen wie Transformation, Standortsicherung oder Arbeitszeiten zu finden.

Dies würde dazu beitragen, den Wettbewerb zwischen nationalstaatlichen Lösungen nach unten zu bekämpfen und einen einheitlichen europäischen Sozialraum zu schaffen. Eine Stärkung der Sozialpartner auf europäischer Ebene, ohne dass sie auf nationaler Ebene geschwächt werden, ist für einen erfolgreichen Kampf unerlässlich. Dann lohnt es sich für starke Gewerkschaften, eine weitere europäische Integration auf allen Ebenen zu fordern und zu unterstützen.

AUF AUGENHÖHE KOMMEN MIT MULTINATIONALEN KONZERNEN

Die Notwendigkeit dieser Maßnahmen wird durch die Unfähigkeit der Nationalstaaten, mit international agierenden Konzernen umzugehen, deutlich. Der freie Markt ohne dazugehörigen Sozialraum hat zu einem Wettbewerb der niedrigsten Standards und Steuern zwischen den Staaten geführt. Eine stärkere europäische Sozialordnung und gemeinsame Arbeitsbeziehungen können dies ändern. Es bedarf einer europäischen Mindeststeuer, einer konsequenten Durchsetzung von starker nationaler Tarifbindung und der oben beschriebenen Reformen im europäischen Arbeitsrecht. Ein einheitliches Europa kann sich keine Konkurrenz untereinander leisten und muss Garant für gute Arbeit sein, um sich im internationalen Wettbewerb zu stärken und eine Augenhöhe mit dem Kapital herzustellen.

Dazu benötigt es auch einen neuen Versuch, eine europäische Verfassung durchzusetzen, in der neben den jetzigen Freizügigkeiten auch verbindliche Rechte für Arbeitnehmer*innen und die Bürger*innen der Union festgehalten werden.

Allzu oft schrecken wir davor zurück, eine progressive Alternative zur jetzigen EU zu debattieren, aus Furcht, rechte Narrative zu stärken.

Das führt aktuell dazu, dass die einzigen „Alternativen” zur EU von den neuen Nazis in Deutschland und Europa verbreitet werden. Die jetzige EU-Wahl darf nur ein Zwischenschritt sein, diesen Kräften den Kampf anzusagen. Gemeinsam müssen wir als internationale Bewegungen für eine hohe Wahlbeteiligung kämpfen und gleichzeitig eine Debatte zur Zukunft eines solidarischen Europas beginnen. Europa ist zu wichtig, um es den Marktradikalen zu überlassen. Ein neuer Anlauf zur europäischen Verfassung ist überfällig. Diesen müssen wir einfordern, begleiten und in unserem Sinne gestalten. Wir brauchen ein Europa, das seine Werte nicht nur aufschreibt, sondern lebt. Diesen Kampf müssen wir gemeinsam führen.

DAFÜR BRAUCHT ES DIE EU: BESSERER SCHUTZ GEGEN AUSBEUTUNG!

Dieser Prozess und die beschriebenen Reformen würden insbesondere vulnerable Gruppen innerhalb des EU-Arbeitsmarktes schützen und stärken – wie z.B. Saisonarbeiter*innen. Diese spielen eine bedeutende Rolle innerhalb des EU-Wirtschaftsraums, insbesondere in Branchen wie Landwirtschaft, Tourismus und Bauwesen. Dass es dieses Arbeitsmodell gibt, hat für die EU-Wirtschaft einige Vorteile. Sie ermöglichen Unternehmen, flexibel auf saisonale Nachfrageschwankungen zu reagieren und tragen dazu bei, Arbeitskräftemangel in bestimmten Branchen zu überbrücken. Dies wiederum fördert die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum. Darüber hinaus bringen Saisonarbeiter*innen oft verschiedene kulturelle Perspektiven mit sich, was den kulturellen Austausch und die Vielfalt innerhalb der EU bereichert.

Dennoch muss kritisch betrachtet werden, dass sie häufig Opfer von Ausbeutung und schlechten Arbeitsbedingungen sind. Die Wohnbedingungen sind oft unzureichend und die soziale Integration sowie regionale Teilhabe sind schwierig bis unmöglich, da Saisonarbeiter*innen oft keine langfristigen Bindungen zu den Gemeinschaften aufbauen können, in denen sie arbeiten. Darüber hinaus haben sie begrenzten Zugang zu rechtlicher Unterstützung und Schutzmechanismen. Es ist entscheidend, die positive Rolle von Saisonarbeiter*innen anzuerkennen und gleichzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern und ihre Rechte zu schützen. Trotz festgelegter Standards durch EU-Richtlinien und nationale Gesetze, die die Rechte der Arbeitnehmer*innen schützen sollen, bleiben Herausforderungen bestehen. Einige Arbeitnehmer*innen sehen sich unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, niedrigen Löhnen, begrenztem Zugang zu Sozialleistungen und schlechten Arbeitsbedingungen gegenüber. Insbesondere Wander- und Saisonarbeiter*innen fallen hierunter. Der Fachkräftemangel darf nicht zu Lasten der Arbeits- und Lebensbedingungen gehen. Eine starke europäische Sozialordnung und starke nationale Gewerkschaften, die gleichzeitig auf europäischer Ebene handlungsfähig sind, können die Nachteile minimieren und Rahmenbedingungen schaffen, die die positiven Aspekte für die Wirtschaft, aber vor allem für die Menschen in den Vordergrund stellen. Diese neue Sozialordnung wird auch innerhalb der EU elementar sein, um einen sogenannten Brain-Drain in einigen Bereichen zu verhindern, insbesondere wenn die EU noch weiter wächst und Staaten mit Beitrittsperspektive aufnimmt. Der Begriff Brain-Drain bezieht sich auf die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus ihren Heimatländern in Länder mit besseren beruflichen Chancen und Lebensbedingungen. Dies führt zum Verlust von Fachkräften und Know-how, was sich negativ auf die lokale Wirtschaft und die Entwicklung des Herkunftslandes auswirkt.

Ziel kann niemals sein, die Regionen innerhalb Europas gegeneinander auszuspielen.

Wir brauchen massive Investitionen in Europa, um alle Regionen an wirtschaftlicher Prosperität teilhaben zu lassen. Und wir brauchen Rahmenbedingungen, die eine europäische Integration ermöglichen, ohne massive Bevölkerungsbewegungen auf Kosten einzelner Regionen auszulösen. Lösungen wie der europäische Mindestlohn, der sich an den regionalen Löhnen orientiert, sind ein erstes Instrument. Europäische Tarifverträge bei steigender Tarifbindung die Lösung.

DIE VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA

Die Sozialdemokratie und auch die deutschen Gewerkschaften hatten vor gut 100 Jahren den Traum der „Vereinigten Staaten von Europa“ formuliert und die SPD diesen auch in ihr damaliges Parteiprogramm aufgenommen. Selbst der deutsche Krieg, Terror und Massenmord in Europa konnten diesen Traum nicht vernichten. Trotz multipler Krisen und internationalen Unsicherheiten sind wir diesem Traum näher als je zuvor. Unsere Generation kann beweisen, dass die eingangs beschriebenen Sorgen einem geeinten, starken und sozialen Europa gewichen sind. Unsere Generation kann ein System erkämpfen, das sich den Autokratien der Welt als leuchtendes Beispiel entgegenstellt. Unsere Generation hat es in der Hand, den Traum der Arbeiter*innenbewegung zu vollenden – nieder mit den Grenzen – und eine Welt für alle in Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu verwirklichen.


Zurück
15. September 2024 | Magazin
United by football?
12. September 2024 | Magazin
Alles auf Rot
01. Juli 2024 | Beitrag
Landeskonferenz der NRW JSAG