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Zeit für ein Tariftreuegesetz!
Wir brauchen dringend ein Tariftreuegesetz! Ich will an dieser Stelle begründen, warum das so ist, und dabei verfassungsrechtliche Bedenken entkräften.
Worum geht es?
Schon seit satten 22 Jahren streitet sich der Bund über ein sogenanntes „Tariftreuegesetz“. Erstmals angestoßen durch die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Angesichts der jetzigen politischen Lage stehen die Chancen jedoch schlecht, dass ein solches Gesetz in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
Aber was regelt das Tariftreuegesetz? Das Gesetz soll die Tarifautonomie im Bund stärken, indem öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge sowie öffentliche Bauaufträge ab einer bestimmten Kostenhöhe nur noch an Unternehmen vergeben werden dürfen, die ihre Arbeiter*innen nach einem bestimmten Tarif beschäftigen. Hierbei soll ein repräsentativer Tarifvertrag für die jeweilige Branche als Mindestvoraussetzung dienen.
Im Übrigen etwas untergegangen: Der Referentenentwurf zum Tariftreuegesetz beinhaltet auch eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes zur Erprobung digitaler Betriebsratswahlen im Zeitraum von Anfang März bis Ende Mai. Auch wenn das nicht im Fokus steht, ist es m.E. nach erwähnenswert.
Gründe für das Gesetz
Ein Tariftreuegesetz sichert existenzsichernde Löhne. Es verhindert, dass der Bund prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit öffentlichen Geldern subventioniert, indem Unternehmen verpflichtet werden, sich mindestens an den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) festgelegten Tarifvertrag zu halten. Darüber hinaus kann ein solches Gesetz auch die Qualität der erbrachten Leistungen verbessern: Besser entlohnte Arbeit führt erfahrungsgemäß zu qualifizierteren Ergebnissen. Überdies stärkt der Bund seine Vorbildfunktion als fairer Auftraggeber und steigert die Attraktivität von Berufen, in denen sich der Fachkräftemangel besonders stark ausprägt.
Die Gründe sind vielfältig, und es gäbe noch vieles mehr zu sagen – aber dafür reicht der Platz hier nicht.
Hintergründe
Wenn man die bundespolitische Debatte um das Tariftreuegesetz verfolgt, dann könnte man meinen, es handele sich bei diesem Gesetz um eine revolutionäre und systemverändernde Idee. Ein Novum sind solche Regelungen jedoch bei weitem nicht. Die große Mehrheit der Länder mit Ausnahme von Bayern und Sachsen haben bereits vergleichbare Regelungen für ihre Ausschreibungen.
Dennoch lassen sich so manche nicht davon beirren und sehen bei einer bundespolitischen Regelung vielerlei rechtliche Bedenken, auf die ich an dieser Stelle eingehen möchte.
Faktischer Tarifzwang
Das erste verfassungsrechtliche Gegenargument ist der sogenannte faktische Tarifzwang. Dieser begründe sich aus der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie (vgl. Art. 9 Abs. 3 GG). Die Tarifautonomie begründe nicht nur das Recht, Tarifverträge abzuschließen, sondern auch das Recht, keine abzuschließen. Durch ein Tariftreuegesetz würde ein „faktischer“ Tarifzwang geschaffen und die Tarifautonomie dadurch verletzt, weshalb das Gesetz verfassungswidrig wäre. Gerade die Bindung an einen fremden Tarifvertrag, der nicht dem hauseigenen entsprechen muss (repräsentativer Tarifvertrag), würde die Tarifautonomie untergraben. Dieser Auffassung kann aber nicht gefolgt werden.
Zum einen ist schon fragwürdig, ob überhaupt ein faktischer Tarifzwang vorliegt. Die Datenlage dazu, wie viele private Bauunternehmen oder Dienstleistende Aufträge des Bundes annehmen, ist karg. Je weniger es sind, desto schwieriger ist es, einen faktischen Tarifzwang anzunehmen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der 2002 gegen das Tariftreuegesetz argumentierte, behauptete damals noch, der Anteil öffentlicher Bauaufträge an allen Bauaufträgen liege bei 20 %. Damals wurde das als Gegenargument verwendet, heute stützt es meine Argumentation – schließlich sind das ziemlich wenige. Außerdem reden wir hier noch über alle öffentlichen Aufträge, nicht über die des Bundes allein. Das in Bonn ansässige Unternehmen „Tank & Rast“ besitzt auch 93,6% aller Raststätten an Deutschlands Autobahnen. Trotzdem argumentiert niemand, dass hierdurch die eigene Vertragsabschlussfreiheit verletzt wird. Doch die deutsche Industrie findet stets einen Weg!
Zum Anderen sind die Unternehmen auch nicht gezwungen, den Bund als Vertragspartner auszuwählen. Es ist ihre privatautonome Entscheidung, ihre Vertragspartner*innen frei auszuwählen. Passen den Unternehmen die Bedingungen nicht, müssen sie die Aufträge nicht annehmen bzw. sich darauf bewerben. Zwar ist der Bund ein großer Auftraggeber, aber schließlich nicht der einzige öffentlich-rechtliche. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung kann angesichts dieses weniger schweren Eingriffs also sehr viel leichter fallen.
Bereits 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über das Berliner Vergabegesetz mit ähnlicher Regelung (§ 1 Abs. 1 S. 2). Das Gericht stellte klar, dass die Tarifautonomie „nicht berührt“ wird. Das Gesetz heißt im Übrigen seit 2010 anders, nämlich Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz. Die Tariftreueregelungen bestehen aber in fast gleicher Form fort (vgl. § 9 Abs. 2 Nr. 2 BerlAVG). Nichtsdestotrotz verliert der Beschluss des BVerfG nicht seine Aussagekraft.
Europarechtliche Konflikte
Das zweite wesentliche Gegenargument befasst sich mit der möglichen Europarechtswidrigkeit eines Tariftreuegesetzes. Vorab ist hier ein Urteil des EuGH vom 3. April 2008 (C-346/06) entscheidend. Die Einzelheiten erspare ich euch: Im Wesentlichen hat der EuGH hier die europarechtlichen Anforderungen an Tariftreueregelungen erheblich verschärft. Demnach dürfen nur „Mindestlohnsätze“ verlangt werden, zu denen der EuGH entweder Mindestentgelte in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen (in Deutschland festgelegt durch den Tarifausschuss) oder eben die gesetzlichen Mindestvorgaben (in Deutschland vor allem der Mindestlohn) zählt. Seit 2008 hat sich aber viel verändert. Soziale Grundrechte haben erheblich an Bedeutung gewonnen. Zum Beispiel durch den Vertrag von Lissabon, der die Grundrechte der Europäischen Union (GRC) zu einem integralen Bestandteil des Europarechts machte. Wer genaueres dazu wissen will, dem*r empfehle ich einen entsprechenden Artikel der ASJ Baden-Württemberg.
Fazit
Sowohl rechtlich als auch politisch kann man lange diskutieren – die Realität bleibt jedoch eindeutig: Die meisten Bundesländer haben bereits Tariftreueregelungen, die oft mit dem vorliegenden Referentenentwurf vergleichbar sind. Es ist höchste Zeit, dass der Bund endlich nachzieht. Nach all den Jahren ist er in der Bringschuld.