NRW Jusos – Magazin
Es kamen Menschen an
Vor rund eineinhalb Jahren verstarb mein Opa Hubyar Polat und einer meiner ersten Gedanken war: „Ich wünschte, ich hätte ihn noch mehr zu seiner Geschichte gefragt!”. In der deutschen Erinnerungskultur gehen allzu häufig die Perspektiven derer unter, die in dieses Land eingewandert sind und es durch ihre Arbeit geprägt haben. Entweder wurden sie nicht gefragt oder ihnen wurde zu schlecht zugehört.
Alicem Polat, Mitglied im Landesvorstand der NRW Jusos
Die Geschichte der sogenannten Gastarbeiter*innen ist eine Geschichte der Ausbeutung von Arbeitskraft. Bereits in der frühen Nachkriegszeit wurde politisch wie gesellschaftlich schnell deutlich, dass die Menschen im Land das nötige wirtschaftliche Wachstum nicht stemmen können. So kam es in den 1950/60er Jahren zu den ersten Anwerbeabkommen Deutschlands mit europäischen Ländern wie Italien, Spanien und Griechenland. Die Anwerbeabkommen bedeuteten, dass es deutschen Firmen ermöglicht werden sollte, ausländische Arbeiter*innen in Deutschland legal zu beschäftigen. Dabei ist zu betonen, dass ausschließlich der Profit deutscher Unternehmen primäres Ziel der Abkommen war. Ein spezielles Rotationsprinzip sollte zudem dafür sorgen, dass die Arbeiter*innen nur für wenige Jahre bleiben konnten, weswegen bis heute von „Gastarbeiter*innen“ gesprochen wird.
Identitätskrise: Einwanderungsland oder „Gastarbeit“?
Nach 12.000 Menschen im Jahre 1955 aus Italien, vervielfachte sich die Zahl in den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Anwerbestopp 1973 auf rund 14 Millionen. Auch wenn davon circa 11 Millionen Arbeiter*innen wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten, profitiert die deutsche Wirtschaft bis heute von den Gastarbeiter*innen, auch wenn Anerkennung und Dankbarkeit vielfach zu vermissen sind. Die Perspektive ebendieser Menschen ist im gesamtgesellschaftlichen Diskurs kaum bis nicht präsent – und rassistische Politiken fordern Dankbarkeit von den „Gastarbeiter*innen“ und den Nachfahren, statt selbst Dankbarkeit zu zeigen.
In diesem Zusammenhang lässt sich die bis dato herrschende gesellschaftliche Wahrnehmung als Identitätskrise zwischen Einwanderungsland und „Gastarbeit“ verstehen. Die mangelnde Auseinandersetzung mit der Prägung und der Notwendigkeit von Einwanderung ermöglicht es insbesondere heute rechten und rassistischen Narrativen, Raum zu gewinnen. Dabei können Bilder, die auch Konservative wie Friedrich Merz versuchen zu konstruieren, historisch nicht standhalten. Dennoch zieht sich die Erzählung durch, dass Menschen nach Deutschland kämen, um vom Land zu profitieren, ohne zu beachten, dass das Land von Jahren der Ausbeutung und Unterdrückung von ausländischen Arbeitskräften profitiert. Möglicherweise lassen sich auch heutige „Migrationspakete“ als Kontinuität dieser Erzählung verstehen.
Gast*innen behandelt man anders, Arbeiter*innen erst recht!
Die Gastarbeiter*innen wurden als billige Arbeitskräfte angeworben, um in Fabriken, Bergwerken und anderen Industriezweigen zu arbeiten. Sie wurden oft unter schlechten Bedingungen beschäftigt und erhielten niedrige Löhne. Viele von ihnen hatten keine oder nur begrenzte Rechte auf soziale Absicherung oder Krankenversicherung. Sie waren gezwungen, lange Stunden zu arbeiten, oft ohne Überstundenzuschläge oder angemessene Ruhezeiten. Aber auch bereits vor ihrer Ankunft in Deutschland mussten die Arbeiter*innen menschenunwürdige und rassistische Untersuchungen über sich ergehen lassen und bürokratische Hürden überwinden. Kamen die Menschen einmal in Deutschland an, wurden sie oft in Lagerhallen und Containern untergebracht, meist in der Nähe ihres Arbeitsortes in eigens für sie angelegten Vierteln, abseits der restlichen Gesellschaft. Von ernsthafter Integrationspolitik und gesellschaftlicher Teilhabe konnte keineswegs gesprochen werden. Die Mentalität, dass es sich um „Gäste“ handeln würde, prägte jegliches politisches Handeln.
Die Arbeiter*innen konnten kein Deutsch und sollten es auch nicht können, denn wer nicht im Land, sondern nur unter sich zu bleiben hatte, sollte keine Sprache, keine Bleibe und keine Teilhabe brauchen, denn er*sie war nur zum Arbeiten da. Und wer die Sprache nicht beherrscht, kann schlechter für seine Rechte einstehen.
Arbeitskampf mit statt ohne Arbeits-Migrant*innen
Doch spätestens 1973 wurde der Unmut der Arbeitsmigrant*innen immer größer. In den Ford-Werken Köln sprachen sie sich ab, vereinigten sich und streikten vom 24. bis 30. August. Grund dafür war die Entlassung von 500 Kolleg*innen, die verspätet aus dem Urlaub zurückkamen, was zu der Zeit jedoch nicht außergewöhnlich war. Die Reise in die Heimat war meist mit Hürden verbunden und jene die aufgrund dessen entlassen wurden, waren kurze Zeit später wieder eingestellt.
Jedoch nicht am 24. August 1973, weswegen sich der zunächst spontane Streik bildete und sich in den darauffolgenden Tagen mehrere Tausend Kolleg*innen anschlossen. Die Arbeiter*innen kämpften gegen Diskriminierung, für eine D-Mark mehr pro Stunde, mehr Urlaubstage und insgesamt bessere Lebensbedingungen für alle. Für die Geschäftsführung und den Betriebsrat waren diese Forderungen jedoch nicht maßgeblich und sie verkündeten eine Einigung, die die wesentlichen Forderungen der Arbeitsmigrant*innen nicht einbezog und im Wesentlichen lediglich die Forderungen der „deutschen“ Arbeiter*innen erfüllte. Daraufhin protestierten die türkischen Arbeiter*innen weiter, was jedoch gewaltsam durch die Polizei beendet wurde.
So ist die deutsche Gesellschaft dennoch bis heute nicht nur von der Arbeit, sondern auch von den Kämpfen der Arbeitsmigrant*innen geprägt. Auch wenn der Diskurs allzu häufig an den Realitäten der migrantischen Gesellschaft vorbeigeht, ist sie da und kein Diskurs kann den Anspruch auf die Wahrheit erheben, ohne die Perspektive der Migrant*innen und Menschen mit Migrationsgeschichte zu repräsentieren. Auch in heutigen Migrationsdebatten sollte dieser Missstand deutlich gemacht und gegen rassistische Narrative gekämpft werden. Denn es kommen auch heute Menschen an!
Über den Autor:
Alicem (25) stammt aus einer Familie von Gastarbeiter*innen. Menschen, die vieles auf sich nehmen und hart arbeiten mussten. Aber nicht nur die Nachfahren, sondern die gesamte Gesellschaft ist geprägt von ihrer Geschichte.