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NRW Jusos – Blog

04. April 2024

Sexualisierte Gewalt ist niemals gerechtfertigt!

Inhaltswarnung: Sexualisierte Gewalt, Antisemitismus

Patriarchale Machtansprüche und Herrschaftsverhältnisse werden auch im 21. Jahrhundert noch an den Körpern von FINTA (Frauen, Inter, Nichtbinäre, Trans und Agender) ausgetragen. Die extremste Form geschlechtsspezifischer Gewalt ist der Femizid, die Tötung einer Frau oder eines Mädchens aufgrund des Geschlechtes. Dennoch werden Femizide noch immer relativiert, Fälle von sexualisierter Gewalt selten zur Anklage gebracht und noch seltener strafrechtlich verurteilt.

Geschlechtsspezifische Gewalt war und ist überall auf der Welt auch immer wieder Waffe in Kriegs- und Krisengebieten. Diese Waffe reproduziert Machthierarchien, entmenschlicht und demütigt die Betroffenen und versucht, sie zum Mittel zum Zweck in gewaltsamen Konflikten zu machen. Ob mit dem Anspruch ‚verfeindete‘ Bevölkerungen oder Nationen mit Hilfe sexualisierter Gewalt zu ‚beflecken‘, FINTA als besonders vulnerable Gruppe zu erniedrigen oder den eigenen patriarchalen Eroberungsphantasien zu entsprechen: Sexualisierte Gewalt als Waffe trifft besonders in bewaffneten Konflikten seit Jahrhunderten FINTA.

Der UN-Generalsekretär António Guterres benannte deshalb 2017 mit Pramila Patten eine Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten. Patten, die als Juristin und Mitglied des UN-Komitees für die Beseitigung von allen Formen von Diskriminierung gegen Frauen bereits zuvor auf internationaler Ebene gegen patriarchale Unterdrückung kämpfte, ist in ihrer Funktion also das offizielle Anerkenntnis der internationalen Gemeinschaft, dass sexualisierte Gewalt als Waffe bekämpft werden muss.

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe

Sexualisierte Gewalt ist bittere Realität in Krisen- und Kriegsgebieten; ob sie jedoch als gezieltes und geplantes Mittel zur Unterdrückung genutzt wird, unterscheidet sich je nach Lage. Die Politikwissenschaftlerin Elisabeth Jean Wood konnte durch Untersuchungen einer Vielzahl von Fällen sexualisierter Gewalt in Krisen- und Kriegssituationen belegen, dass Befehlshaber*innen diese teils explizit verbieten oder auch Anstrengungen unternehmen, diese gezielt zu unterbinden:

Wenn eine militärische Organisation anstrebt, eine zivile Bevölkerungsgruppe zu regieren, werden die Anführer vermutlich versuchen, der sexuellen Gewalt der Soldaten gegen zivile Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe Einhalt zu gebieten, weil sie fürchten, die Unterstützung dieser Gruppe für den geplanten Umsturz zu verlieren.

Wood, Elisabeth Jean, Sexuelle Gewalt im Krieg. Zum Verständnis unterschiedlicher Formen, in: Eschenbach, Insa, Mühlhäuser, Regina (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 94.

Befehlshaberinnen können aber auch aus anderen Motiven sexualisierte Gewalt ahnden und strafrechtlich verfolgen, etwa aus dem Versuch heraus, die Disziplin innerhalb der angreifenden Truppe zu wahren. So verfolgte und bestrafte die Wehrmacht innerhalb des Zweiten Weltkriegs Sexualstraftaten durch deutsche Soldaten nur dann, wenn befürchtet wurde, dass die Disziplin innerhalb der Truppe gefährdet war. Im Jahr 1941 verabschiedete die Wehrmachtsführung sei gefährdet (einen Erlass, der die strafrechtliche Verfolgung jedweder Gewalt an Zivilistinnen durch Wehrmachtssoldaten aussetzte, es sei denn, „die Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherung der Truppe“ (vgl. Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa und die besonderen Maßnahmen der Truppe vom 13. Mai 1941)).

Die Internationale Gemeinschaft ächtete sexualisierte Gewalt in Krisen- und Kriegssituationen erst im Jahr 2008 im Rahmen einer UN-Resolution. Systematische sexualisierte Gewalt in den Kriegen in Bosnien und Herzegowina sowie in Ruanda führten zur Anerkennung sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe. Seitdem wird unterschieden zwischen sexualisierter Kriegsgewalt und der von Befehlshaber*innen offiziell angeordneten oder zumindest gebilligten sexualisierten Gewalt als Waffe. Sexualisierte Kriegsgewalt sind also Gewaltakte, die durch die Verschärfung von bereits zuvor bestehenden patriarchalen Diskriminierungen hervorgerufen werden; sexualisierte Gewalt als Waffe ist Teil einer menschenverachtenden Kriegstaktik.

Der 7. Oktober 2023

Am 7. Oktober 2023 griff die Terrororganisation Hamas systematisch Israel an und verübte in erster Linie gezielt Gewalt gegen Zivilist*innen. Plünderungen, die Ermordung von 1200 Israelis und die Verschleppung von 250 Menschen aus Israel in den Gazastreifen stellten die schwersten Anschläge auf Israel seit seiner Gründung dar. Bereits am 7. Oktober wurden erste Einzelheiten über sexualisierte Gewalt durch Hamas-Kämpfer an Israelis bekannt. Unter anderem auch deshalb, weil die Terroristen Teile ihrer Gewaltakte per Video filmten und live im Netz streamten. Nicht von der Hand zu weisen ist durch diese bewusste Zurschaustellung durch die Terroristen selbst ihr von Grund auf antifeministisches und antisemitisches Weltbild: Die Gewaltopfer erlitten nicht nur unvorstellbares Leid, sondern wurden wie Trophäen der Unterdrückung und der Zerstörungsexzesse zur Schau gestellt.

Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten stellte schließlich diesen Monat einen vorläufigen Bericht über die am 7. Oktober 2023 verübte sexualisierte Gewalt vor. Anfang des Jahres besuchte Patten mit ihrem Team Israel. Sie sichteten über 5.000 Fotos, 50 Stunden Videomaterial und führten Gespräche mit Behörden und Hilfsorganisationen. Betroffene selbst konnten nicht interviewt werden, da sie zu traumatisiert waren. Patten konnte eine ganze Reihe von Berichten sexualisierter Gewalt belegen, sowohl gegen Zivilist*innen innerhalb Israels als auch gegen Geiseln in Gefangenschaft.

„Gegen jeden Antisemitismus“ heißt Solidarität mit den Opfern sexualisierter Gewalt!

Es gibt also seit gut zwei Wochen einen offiziellen UN-Bericht, der darlegt, dass sexualisierte Gewalt am 7. Oktober planmäßig Teil der Angriffe durch die Hamas auf Israel war. Es gibt unabhängig geprüfte Beweise, dass Geiseln in Gefangenschaft Opfer sexualisierter Gewalt wurden und der Bericht vermutet, dass die noch in Gefangenschaft verbliebenen Geiseln dieser Form der Gewalt wahrscheinlich noch immer ausgesetzt sind. Und doch gibt es Menschen, die diese Beweise zurückweisen. Stimmen, die Betroffenen ihre Glaubwürdigkeit absprechen und die die Darstellungen als Lügen brandmarken. Angeblich linke Stimmen, die die Gewalt vom 7. Oktober als ‚gerechtfertigt‘ darstellen.

Wer sich als Feministin versteht, gleichzeitig jedoch bereit ist, Betroffenen sexualisierter Gewalt nicht zu glauben, weil diese Opfer Jüdinnen und Israelis sind, derdie beweist nicht nur den eigenen Antisemitismus, sondern verrät den feministischen Kampf. Es geht in der Ächtung der sexualisierten Gewalt vom 7. Oktober 2023 nämlich nicht um die aktuelle Situation in Nahost. Es geht nicht um eine legitime Kritik an der aktuellen Kriegsführung durch die Netanjahu-Regierung. Es geht nicht um die Frage von Staatsgrenzen und wo diese warum zu ziehen sind. Es geht nicht um die Siedlungspolitik.

Es geht schlicht und ergreifend um Jüdinnen und Israelis, deren Körper als patriarchales Schlachtfeld des brutalsten Angriffes auf jüdisches Leben seit dem Ende der Shoah missbraucht wurden. Sexualisierte Gewalt ist niemals gerechtfertigt. Nicht zu erkennen, dass der antisemitische Vernichtungswahn der Hamas jüdische und israelische FINTA als Mittel zum Zweck nutzt, ist antifeministisch und menschenverachtend.

Ein Feminismus, der die Augen vor sexualisierter Gewalt verschließt, der kann nie der unsere sein.

Der feministische Kampf ist ein Kampf gegen strukturelle Machtverhältnisse und darf sich deshalb auch niemals nur auf einzelne undindividuelle Fälle beschränken. Denn der feministische Kampf ist ein emanzipatorisches Unterfangen, das immer zum Ziel hat, unterdrückerische patriarchale Strukturen aufzudecken, sie zu analysieren und sie schlussendlich zu überwinden. Als Jungsozialist*innen ist dieser Anspruch einer unserer zentralen Grundwerte, wir verbinden damit die Selbstverpflichtung und Notwendigkeit, feministische Perspektiven niemals als „Nice to have“ oder Randnotiz zu verstehen, sondern als unentbehrlichen Teil unseres Kampfes für eine bessere Welt in den Fokus unserer Auseinandersetzungen zu stellen.

Was in der Theorie noch abstrakt klingt, wagen wir immer wieder in konkrete Maximen zu übersetzen, die uns als feministischen Verband ausmachen sollen. Eine dieser zentralen Maximen ist, dass wir sexualisierte Gewalt niemals als gerechtfertigt sehen und Betroffenen immer unseren Glauben schenken. Weil wir damit einerseits patriarchalen Unterdrückungsmechanismen den Kampf ansagen wollen, welche Frauen, Mädchen und INTA immer wieder als Austragungsort misogyner Gewalt nutzen. Und weil wir damit zeigen wollen, dass alleine das Vertrauen in Betroffene feministische Widerstände sichtbar macht. Ob innerhalb politischer Strukturen, in der Auseinandersetzung mit Femiziden in Deutschland oder der Ächtung sexualisierter Gewalt als Waffe in Krisen und Kriegssituationen: Unser feministisches Selbstverständnis bedeutet für uns keinen Spielraum in der Art und Weise, wie wir sexualisierter Gewalt begegnen. Und zwar mit unbedingter Solidarität mit den Betroffenen. Das bedeutet zuvorderst, ihnen ihre Erlebnisse und Traumatisierungen nicht abzusprechen.

Als NRW Jusos haben wir erst im vergangenen Jahr unsere Solidarität mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Krisen- und Kriegsgebieten mit einer neuen Beschlusslage Ausdruck verliehen:

„Die Lebensumstände für FINTA in Kriegs- und Krisengebieten sind prekär, lebensgefährdend und unfrei – so zeigt das Patriarchat wieder einmal, dass FINTA in diesem System nicht herrschen, sondern, dass über sie geherrscht wird, über sie entschieden wird und sie zum Objekt gemacht werden. (…) Unsere Solidarität muss langfristig sein und darf nicht abnehmen – es ist unsere Aufgabe als Feminist*innen nicht wegzuschauen, sich zu informieren und laut zu sein gegen Gewalt und für alle Betroffenen in Kriegs- und Krisengebieten.“

Ein Feminismus, der diesen Grundsatz nicht beachtet, der kann nie der unsere sein. Ein Feminismus, der die Augen vor sexualisierter Gewalt verschließt, der kann nie der unsere sein. Ein Feminismus, der Jüdinnen als Zielscheibe solcher Gewalt negiert, der kann nie der unsere sein, verstößt er doch nicht nur gegen unsere feministische Grundhaltung, sondern symbolisiert den strukturellen Antisemitismus. Wer ‘gegen jeden Antisemitismus’ sagt, der darf dies eben nicht einschränken, wenn es um die Opfer des 7. Oktober geht.


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