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NRW Jusos – Magazin

10. August 2023

Menschen, keine Zahlen

Warum der Neustart in der Asyl- und Migrationspolitik mein Etikettenschwindel sein darf:

Sowohl die Bundesregierung als auch die schwarz-grüne Landesregierung in NRW haben Reformen und Neupositionierungen im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik angekündigt. Einiges wurde zum Beispiel auf Bundesebene – wie das neue Chancen- Aufenthaltsrecht – bereits in neue Rechtsgrundlagen gelegt. Und auch auf Landesebene zeigte sich die Landesregierung im Rahmen der Regierungsbildung gewillt, einen humaneren Kurs in der landespolitischen Asyl- und Migrationspolitik zu fahren.

So setzte die schwarz-grüne Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag fest, humanere Anforderungen im Kontext von Rückführungen festzulegen oder etwa Unterbringungsstandards genauer in den Blick zu nehmen. Aus jungsozialistischer Sicht bilden die neuen Rechtsgrundlagen ein minimales Korrektiv zum Asyl- und Migrationskurs der letzten Jahre – sie sind für uns allerdings nicht ausreichend, nehmen nicht alle Schutzsuchenden in den Blick, sind immer noch geprägt von rassistischen und unmenschlichen Narrativen und lassen einige technische Herausforderungen, die zum Beispiel bei der Umsetzung in den kommunalen Behörden aufkommen, außer Acht.

GELINGT DER BUNDESREGIERUNG DER PARADIGMENWECHSEL IN DER MIGRATIONSPOLITIK?

Die sogenannte Fortschrittskoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag den Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik auf die Fahne geschrieben. Gelingt ihr das? Und warum ist dieser Paradigmenwechsel überhaupt notwendig? Auf den erstarkenden Rassismus nach 2015 reagierte die GroKo in deutscher Tradition wie schon in den 1990er Jahren mit Asylrechtsverschärfungen.

Im „Hau-ab-Gesetz“ der GroKo wurde 2019 unter anderem eine extreme Verschärfung von Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam beschlossen. Einige Asylrechtsverschärfungen will die sogenannte Fortschrittskoalition rückgängig machen und sich auch in die Richtung eines modernen Einwanderungslandes bewegen. Doch aktuell wird sehr wenig darüber geredet, wie wir ein modernes Einwanderungsland werden wollen, sondern mehr über Abschiebung und Abschottung.

WAS HAT SICH DIE AMPEL-REGIERUNG VORGENOMMEN?

Die Ampel will mehr Arbeitsmigration durch ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz ermöglichen. Außerdem tritt sie für faire, zügige und rechtssichere Asylverfahren ein, bei denen unter anderem die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte zurückgenommen, Beschäftigungsverbote abgeschafft und das Asylbewerberleistungsgesetz weiterentwickelt werden sollen. Die Ampel möchte mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht die unmenschlichen Kettenduldungen weitgehend abschaffen und ein schnelleres Bleiberecht für Geduldete schaffen. Außerdem will sie Einbürgerungen durch eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erleichtern. Gleichzeitig hat die aktuelle Bundesregierung aber auch eine Abschiebeoffensive im Koalitionsvertrag festgehalten und will Frontex stärken.

WAS BISHER UND GERADE PASSIERT:

Mit dem ersten Migrationspaket wurde das Chancen-Aufenthaltsrecht eingeführt. Das ist gut und wichtig. Doch damit das Chancen-Aufenthaltsrecht auch voll wirken kann, braucht es dringend das zweite Migrationspaket, welches zum Beispiel die Identitätsklärung durch Versicherung an Eides statt, die Abschaffung der Beschäftigungsverbote und den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte vorsieht. Das Migrationspaket II sollte eigentlich in der ersten Jahreshälfte 2023 kommen, wurde jetzt aber erst einmal vage auf Ende des Jahres 2023 verschoben. Eigentlich sollten im ersten Quartal 2023 außerdem das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts kommen, aber auch diese Vorhaben stecken gerade fest. Vor allem die FDP hat Probleme bei der Reformierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Pläne zur Verbesserung des unsäglichen Asylbewerberleistungsgesetzes, welches eigentlich abgeschafft gehört, gibt es noch gar nicht. Doch wir brauchen so dringend Veränderungen!

WENIGER PARADIGMENWECHSEL, MEHR ALTE RASSISTISCHE DEBATTEN

Der Koalitionsvertrag deutet ein Problem schon an: Wir wollen hin zu einem modernen Einwanderungsland, die Reformen werden gleichzeitig aber auch an restriktive Vorhaben wie beispielsweise die Abschiebeoffensive geknüpft, die ein rassistischer Selbstzweck ist. Seit der Ankündigung der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hören wir wieder vermehrt die rassistischen Narrative vom „Verramschen“ der deutschen Staatsangehörigkeit. Die Ausschreitungen in der Silvesternacht 2022 kamen zur Instrumentalisierung für rassistische Debatten zusätzlich sehr gelegen.

Aktuell wird viel über Abschiebungen und vermeintlich „illegale” Migration diskutiert. Und das nicht nur von der CDU (von der AfD müssen wir gar nicht sprechen), sondern auch der sogenannten Fortschrittskoalition: von FDP-Fraktionschef Christian Dürr, der Klimaschutz- Hilfen gegen zurückgenommene Geflüchtete tauschen will, Christian Lindner, der mehr Abschiebungen fordert, aber auch Nancy Faeser, die von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“ spricht. Auch Olaf Scholz fordert für die EU mehr Abschiebung und Abschottung, während weitere Sozialdemokrat*innen sich in diese Debatte einreihen.

Es ist 2023. Fast ein Drittel der Menschen in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte. Wir sind ein Einwanderungsland. Die Bundesregierung muss jetzt entscheiden: Will sie einen großen Teil der Gesellschaft weiter unterdrücken und ausgrenzen oder will sie jetzt endlich Schritte zu mehr Gleichberechtigung und Teilhabe gehen?

ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK IST AUCH LANDESSACHE – WAS MACHT EIGENTLICH DIE LANDESREGIERUNG?

Natürlich könnte man jetzt sagen, dass die Landesregierung nur wenige rechtliche Handlungsmöglichkeiten hat und die Neujustierung maßgeblicher Rechtsgrundlagen, die einen umfänglichen Kurswechsel zu einer humaneren Asyl- und Migrationspolitik herbeiführen würden, in der Verantwortung der Bundesebene liegt. Wirft man allerdings einen Blick auf die Landesebene, so stellt man fest, dass die Landesregierung eben doch einige Handlungsspielräume besitzt, die Ausführung und Anwendungsbereiche asylpolitischer Maßnahmen so zu gestalten, dass sie sich einer progressiveren Asyl- und Migrationspolitik nähern und Kommunen entlasten. So spielt beispielsweise vor allem das Landesaufnahme- und Unterbringungssystem eine enorme Rolle, denn die beiden Systeme regulieren das Ankommen Schutzsuchender in NRW.

Im Rahmen unseres Arbeitsprogramms haben wir die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Fragen, wie Schutzsuchende in NRW ankommen und was sie für eine würdevolle Aufnahme und Unterbringung benötigen, festgeschrieben. Die Fragen sind wichtig, denn die Auseinandersetzung mit ihnen macht deutlich, dass das Prinzip des würdevollen Wohnens als Menschenrecht Schutzsuchende nicht ausschließen darf. Seit der Reform des Landesaufnahmesystems Ende des Jahres 2017 durchlaufen Schutzsuchende ein dreistufiges Aufnahmesystem, in dem sie mit vielen Missständen konfrontiert sind. Fehlende Teilhabe, keine Integrations- und Bildungsmöglichkeiten, keine Privatsphäre und mangelnde Gesundheitsversorgung sind die Standards im jetzigen Landesaufnahmesystem.

Der Flüchtlingsrat 2017 hat dazu im Rahmen einer Erhebung Stellung bezogen und die Lebensbedingungen in sogenannten Sammelunterkünften dokumentiert. Die Dokumentation der Lebensbedingungen und des Wegs hin zur kommunalen Unterbringung macht deutlich, dass sowohl große rechtliche Löcher zu stopfen sind und die Frage und Entwicklung rechtlicher Mindeststandards, die gruppenspezifische Bedürfnisse in den Blick nimmt, essenziell ist. Vielerorts haben Kommunen für sich – beispielsweise per Ratsbeschluss – freiwillige Mindeststandards der Unterbringung festgelegt, dies ist flächendeckend allerdings nicht rechtsbindend. Auch hier sehen wir zu wenige Ambitionen der schwarz-grünen Landesregierung, den Status quo aufzubrechen und rechtliche Mindeststandards der Unterbringung, die beispielsweise Teilhabemöglichkeiten und Schutzkonzepte für vulnerable Gruppen rechtlich festlegen würden, umzusetzen.

Wir Jungsozialist*innen kämpfen für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Das Ziel muss sein, Schutzsuchende in diesen Kampf einzubeziehen und dies vor allem durch die Korrektur repressiver und menschenverachtender Rechtsgrundlagen im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik zu tun – dafür kämpfen wir unermüdlich auf Bundes- und Landesebene.


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