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NRW Jusos – Blog

06. Mai 2023

Türkei-Wahl: zwischen Demokratisierung und Autokratie

Am 14. Mai entscheiden über 60 Millionen türkische Staatsbürger*innen in den wichtigsten Wahlen der Landesgeschichte, ob der autoritäre Umbau des Staates unter der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) fortgeführt oder mit dem Sozialdemokraten Kemal Kılıçdaroğlu der versprochene demokratische Wandel eingeleitet wird. Das Land befindet sich seit dem autoritären Kurswechsel des Erdoğan-Regimes, dem Scheitern der Friedensverhandlungen mit den Kurd*innen und dem gescheiterten Putschversuch 2016 im Krisenmodus. Auch die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Regierung fand durch Korruption und Vetternwirtschaft ein jähes Ende. Das Land ist durch eine (offizielle) Inflation von über 80% gebeutelt von einer Explosion der Lebenshaltungskosten. Das Verhältnis zu seinen Nachbar*innen und der internationalen Gemeinschaft leidet unter der nationalistischen Rhetorik, dem antiwestlichen Kurs und dem außenpolitischen Expansionismus. Eine europäische Perspektive scheint in unerreichbare Ferne gerückt zu sein, während eine politische Neuorientierung in Richtung der islamischen Welt forciert wird. Viele Bürger*innen empfinden die Wahlen daher als Systemabstimmung. Es stehen sich zwei Bündnisse gegenüber, deren politische Fahrpläne unterschiedlicher nicht sein könnten: Ein auf die Person Erdoğan zugeschnittenes autoritär-zentralistisches Präsidialsystem ohne jegliche Gewaltenteilung gegen die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie nach westlichem Vorbild. Für ein Grundverständnis der Dynamiken des Wahlkampfes, der Diskurse und genutzten Narrative lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. 

Historische Einordnung

Die Türkische Republik wurde 1923 auf den Trümmern des zerfallenen Osmanischen Reiches errichtet. Die erste Partei und unangefochtene staatstragende Bewegung, war die CHP (Republikanische Volkspartei) des Staatsgründers Mustafa Kemal “Atatürk”, die mit tiefgreifenden Reformen die Konsolidierungsphase organisierte. Sie rekrutierte sich aus den zumeist westlich orientierten, urbanen und regionalen Eliten, dem Bürokratieapparat und insbesondere ehemaligen Militärs. Es herrschte ein striktes Einparteiensystem, das sich ideologisch an den Kernelementen des “Kemalismus” orientierte. Diese hatten zum Ziel, das Land zu verwestlichen und zu “zivilisieren”. Dies stieß besonders in ländlich geprägten konservativen Kreisen, aber auch bei ethnischen und religiösen Minderheiten auf großen Widerstand. Jene Konflikte der Gründungsphase sind bis heute Streitthemen zwischen Konservativen und Säkularen und erklären den tiefsitzenden Hass zwischen beiden Seiten. Insbesondere die Bemühungen, in das institutionelle Gefüge der westlichen Welt aufgenommen zu werden, bewogen die Führung der CHP nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer politischen Öffnung und der Einführung eines Mehrparteiensystems. Dies hatte verheerende Folgen für die Partei, die bei den ersten Wahlen die absolute Mehrheit an die neu gegründete, konservative DP (Demokratische Partei) unter Führung von Adnan Menderes verlor. Menderes handelte nicht nach kemalistischer Dogmatik, was das Militär 1960 zu einem Putsch und seiner anschließenden Hinrichtung veranlasste. Diese Hinrichtung ist bis heute Gegenstand politischer Diskussionen, da sich Erdoğan als politischer Nachfolger von Menderes versteht. 

In den 60er und 70er Jahren ermöglichte die vom Militär eingeführte neue Verfassung neben autoritären und zentralistischen Elementen auch eine Pluralisierung und Ausdifferenzierung des politisch-ideologischen Spektrums. In der Folge gründeten sich dutzende Parteien. Die ideologische Pluralisierung hatte in den folgenden Jahren jedoch einen polarisierenden Effekt auf die Gesellschaft. Gewaltausbrüche zwischen linken und rechtextremistischen Kräften um die MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) sowie mehrere Massaker an Linken und Minderheiten führten letztlich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Das Militär putschte 1971 gegen den Nationalkonservativen Süleyman Demirel und verbot die AKP-Vorgängerparteien sowie die linke TIP (Arbeiterpartei der Türkei). In den 70er Jahren konnte sich zum ersten und vorerst letzten Mal im Mehrparteiensystem die CHP unter Führung von Bülent Ecevit bei den Wahlen durchsetzen. Die folgenden Jahre waren jedoch von Wirtschaftskrisen und dem Angriffskrieg auf Zypern geprägt, was die Instabilität zusätzlich vertiefte.  

Das nach wie vor mächtige Militär putschte 1980 ein drittes Mal. Generalstabschef Kenan Evren wurde als Vorsitzender des “Nationalen Sicherheitsrates”, der bis heute fortbesteht, zum alleinigen Herrscher, der zunächst alle politischen Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeber*innenverbände und Vereine verbot und blutige “politische Säuberungen” durchführte. Dies kam einem kompletten Restart des Parteiensystems gleich. Der Putsch hatte sehr tiefgreifende Folgen. Die von den Putschisten verabschiedete Verfassung gilt in Teilen bis heute. Sie beinhaltet die Konzentration der Macht auf die Person der*des Parteivorsitzenden und den Einfluss auf die Delegiertenauswahl, verdeutlicht das Fehlen innerparteilicher Demokratie und festigt zentralistische Organisationsstrukturen. Ideologisch wurde die sogenannte “Türk-Islam sentezi“ (Türkisch-islamische Synthese) etabliert, die eine weitere Verfestigung des Nationalismus forcierte und die Unvereinbarkeit mit islamischen Vorstellungen überwand. Dieses Konzept bildet bis heute die ideologische Grundlage fast aller türkischen Parteien, so auch der AKP. 

Nach der Neugründung der meisten verbotenen Parteien konnte erneut eine der Vorgängerparteien der AKP, die rechtskonservative ANAP (Mutterlandspartei) unter Führung von Turgut Özal, Fuß fassen. Sie trieb einerseits den konservativen Umbau der Gesellschaft voran, stand andererseits aber auch für eine liberale Öffnung des Landes. Die islamistische Vorgängerpartei der AKP war die damals von Necmettin Erbakan, dem politischen Ziehvater von Recep Tayyip Erdoğan, gegründete RP (Wohlfahrtspartei). Sie hatte bei den Kommunalwahlen 1994 ihren Durchbruch und Erdoğan wurde zum Oberbürgermeister Istanbuls gewählt, womit er den Grundstein seiner Karriere legte. 

Um die heutigen politischen Entwicklungen in der Türkei und den Aufstieg der AKP zu verstehen, muss man sich auch die Verbotspolitik der 90er-Jahre vergegenwärtigen. Die RP gewann die Parlamentswahlen 1995 und stellte mit Erbakan den Regierungschef. Die Partei wurde jedoch, wie sämtliche Vorgängerparteien, vom Verfassungsgericht verboten und Erbakan mit einem lebenslangen Politikverbot belegt, weil die kemalistische Elite ihn als große Gefahr für ihre Vormachtstellung empfand. An ihre Stelle trat die 1998 die FP (Tugendpartei), die ein Jahr zuvor gegründet worden war und ihrerseits 2001 verboten wurde. Das Jahrzehnt war somit geprägt von instabilen und ideologisch unvereinbaren Koalitionen, Korruptionsskandalen, der Wirtschaftskrise 2001 und Parteiverbotsverfahren.  

Die 2001 als Nachfolgepartei der FP gegründete AKP zog mehrere politisch-ideologische Konsequenzen aus den Parteiverbotserfahrungen in ihrer Geschichte und der Übermacht der kemalistischen Elite: Der Diskurs um den Laizismus und die Stärkung religiöser Rechte formierte sich nunmehr im Kontext des westlich-liberalen Menschenrechtsdiskurses. Sie bekannte sich zum politischen Pluralismus und versprach Minderheiten, die eine zusätzliche Autoritarisierung der Gesellschaft fürchteten, mehr Freiheiten zu gewährleisten. Mit Verweis auf den antidemokratischen Charakter der militärischen Führung intervenierte er gegen Militär und Justizapparat. Anstelle der kemalistisch-laizistischen Elite in Militär, Justiz und Wirtschaft trat die neue “grüne Elite”, Mitglieder der Regierungsparteien, Absolvent*innen der staatlich-religiösen “Imam-Hatip-Schulen“ und alten Weggefährten Erdoğans sowie deren Netzwerke. Die anfängliche Demokratisierung und Annäherung an den Westen waren in der Retrospektive strategisch motivierte Schachzüge, um die Gunst des Westens im Kampf gegen die westlich orientierten Kemalist*innen zu gewinnen. 

Die anfänglich liberal-konservative AKP vertritt nunmehr islamistisch-nationalistische Positionen, während die ehemals kemalistisch-nationalistische CHP sozialdemokratische Positionen mit populistischen Einsprengseln angenommen hat. Die ideologische Zusammensetzung des Parteiensystems hat sich dadurch erneut radikal gewandelt: Die AKP suchte eine Annäherung an die rechtsextremen Parteien MHP und BBP (Partei der Großen Einheit) sowie die islamistische YRP (Neue Wohlfahrtspartei) und HÜDA-PAR (Partei Gottes), die Nachfolgeorganisation der terroristischen Hizbullah. Die CHP vollzieht hingegen einen Wandel zur sozialdemokratischen Volkspartei und hat ein Bündnis mit fünf mitte-rechten und liberal-konservativen Parteien. 

Parteianalyse

Die Parteienlandschaft der Türkei ist breit gefächert. Die SPD und wir als Jusos stehen zwei türkischen Parteien besonders nah: zum einen der CHP, zum anderen der HDP (Demokratische Partei der Völker). Warum gerade diesen beiden Parteien?  

Die CHP ist aktuell die größte Oppositionspartei im türkischen Parlament. Die Grundwerte der CHP basieren auf dem weiter oben genannten Kemalismus, der Gründungsideologie der türkischen Republik. Republikanismus, Laizismus (d.h. Trennung von Staat und Religion), Revolutionismus (im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen), Etatismus (mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung), Populismus (als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik) und Nationalismus (als Wendung gegen ein multiethnisches und religiöses Staatskonzept osmanischen Zuschnitts) fassen den Kemalismus zusammen. Nach eigener Aussage steht die CHP für Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Die Partei versteht sich als „Mitte-Links“ und sieht ihren Schwerpunkt im Erkämpfen einer unabhängigen, republikanischen und laizistischen Türkei. In ihrem Parteiprogramm verspricht die CHP Veränderungen für eine zeitgemäße Türkei. Sie setzt sich für demokratische und soziale Reformen ein und wirbt für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, weg von der neoliberalen Ausrichtung der AKP. Außerdem ist sie ein assoziiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Europas und Vollmitglied der Sozialistischen Internationale. Ihre Stammwählerschaft besteht überwiegend aus städtischen, säkularen und gebildeten Türk*innen, Wähler*innen aus Westanatolien, sowie Studierenden und Alevit*innen. Letztere sehen in der CHP eine starke Kraft gegen die Islamisierung. Unter der Führung des Staatsgründers Atatürk führte sie zahlreiche Reformen durch, wie u.a. die Abschaffung des Sultanats und des Kalifats, die Vereinheitlichung des Unterrichts, die Einführung des lateinischen Alphabets sowie die grundlegende Reform des Zivil-, Straf- und Schuldenrechts. Nach dem die Putschisten 1980 alle Parteien verboten, gründete sich die CHP 1992 unter Führung des Parteivorsitzenden Deniz Baykal wieder, welcher das Amt bis 2010 innehatte. Militanter Laizismus, eine defensive Haltung in der Kurdenfrage und EU-Skepsis waren in dieser Zeit Eckpunkte der Politik der „neuen CHP“. Kemal Kılıçdaroğlu, der jetzige Spitzenkandidat, übernahm 2010 den Vorsitz der Partei. Dieser stellte die Fragen der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit wieder stärker in den Mittelpunkt der Partei.  

Die Halkların Demokratik Partisi, kurz HDP, ist die zweite Schwesterpartei der SPD. Sie wurde 2012 gegründet und ist eine Dachorganisation verschiedener kurdischer, linker und alternativer Parteien. Ihre politische Ausrichtung ist sozialistisch, progressiv und von westlich orientierten Gruppierungen beeinflusst. Die HDP selbst beschreibt ihre Leitkultur als linksgerichtete Partei für alle Bevölkerungsgruppen. Ihr Ziel ist es, eine demokratische Volksherrschaft zu errichten und den Menschen ein würdiges Leben ohne Repressionen, Ausbeutung und Diskriminierung zu ermöglichen. Im Mittelpunkt ihrer parteipolitischen Ziele stehen der Sozialismus, Feminismus, Antikapitalismus, klimafreundlichere Politik und die Rechte von LGTBQIA+. Die HDP ist Mitglied der sogenannten Progressive Alliance, einem internationalen Zusammenschluss sozialdemokratischer Parteien. Die Partei befürwortet Minderheitenrechte, und als einzige Partei im türkischen Parlament insbesondere die der kurdischen Minderheit. Sie versteht sich selbst als linke und progressive Kraft für die gesamte Türkei. Mit 31 Prozent hat die HDP-Fraktion den höchsten Frauenanteil im Parlament und ist die einzige Parlamentspartei mit einer Doppelspitze. Bei der Parlamentswahl im Juni 2015 konnte die HDP ihre Stimmen mit 13,1 Prozent mehr als verdoppeln und als erste prokurdische Partei mit 80 Mandaten direkt ins Parlament einziehen. Ein Grund hierfür war, dass auch viele ethnische Türk*innen in der Westtürkei die HDP wählten. Der HDP wird von verschiedenen Parteien, Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und vom Außenministerium vorgeworfen, sich von der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) nicht deutlich genug zu distanzieren bzw. Verbindungen zu ihr zu haben. Dies führte dazu, dass das türkische Parlament im Mai 2016 138 Abgeordneten die Immunität entzog, 50 davon gehörten zur HDP.  

Sowohl die CHP als auch die HDP haben sozialdemokratische Züge in ihren politischen Ausrichtungen. Beide Parteien haben mit der SPD die kritische Haltung dem neoliberalen Wirtschaften gegenüber gemeinsam. Auch ihre pro-europäische Haltung stellt eine starke Verbundenheit zur SPD dar. Die Parteien sind sich einig im Bestreben die Gewaltenteilung wiederherzustellen. Staat und Religion sollten unabhängig voneinander agieren. Natürlich sollten diese Gemeinsamkeiten mit etwas Vorsicht betrachtet werden. Aus jungsozialistischer Perspektive gibt es einige Positionen, die kritisch betrachtet werden müssen. Die CHP ist in ihrem Kern eine kemalistische Partei und hält an der “historischen Reinheit” ihrer politischen Praxis fest, so auch an den zahlreichen Massakern an ethnischen und religiösen Minderheiten sowie an politischen Dissident*innen. Trauriger Höhepunkt dieser Verbrechen war die kulturelle Vernichtung der Dersimer. 1935 sagte “Atatürk” im Parlament, “Dersim sei ein Geschwür und müsse ausgetrocknet werden”. Opfer der sogenannten “Tunceli Harekatı” (“Operation Eiserne Faust”) war die ethnoreligiöse Gemeinschaft der kurdischen Alevit*innen. Bis heute pflegt die CHP in Fragen der kulturellen Vielfalt eine äußert nationalistische Sichtweise. Besonders in der Migrationspolitik vertritt sie rechtspopulistische Positionen und verspricht die Abschiebung aller Geflüchteten und Migrant*innen ohne Rücksicht auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Das Thema ist auch allgegenwärtig im Wahlkampf, der bereits seit Monaten erbittert geführt wird. 

Die Wahl

Obwohl der Beschluss zur Vorverlegung des Wahltermins vergleichsweise kurzfristig kam, ist die Zuspitzung des Wahlkampfes keineswegs eine Überraschung. Schon seit einigen Jahren bereitet sich die türkische Opposition auf den Wahlkampf vor und greift dafür auf bisher unbekannte Mittel zurück. Die großen Oppositionsparteien CHP und IP (Gute Partei) schlossen sich in diesem Zuge bereits zur Wahl 2018 zu einer Allianz zusammen und stellen mit den kleineren Parteien SP (Partei der Glückseligkeit) und DP (Demokratische Partei) das größte Oppositionsbündnis dar. Zur aktuellen Wahl schlossen sich zudem die vom Ex-AKP-Finanz- und Außenminister Ali Babacan gegründete liberal-konservative DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt) und die GP (Zukunftspartei) unter Führung des ehemaligen AKP-Ministerpräsidenten und Außenministers Ahmet Davutoglu diesem Bündnis an, weswegen fortan vom „Sechser-Tisch“ gesprochen wurde.  

Zur Parlamentswahl 2018 wurden bereits sogenannte „Ittifak“ (Bündnisse) zugelassen, womit sich die Regierung erhofft hatte, ihrem Bündnispartner MHP den Einzug in das Parlament zu erleichtern, da es kleineren Parteien ermöglichte, die Prozenthürde zu umgehen. Jedoch wurde dieses Prinzip teilweise wieder verworfen und beschlossen, dass die Stimmen der Bündnisparteien bei der Berechnung der Sitze nicht mehr summiert werden. Dieser Beschluss sollte Bündnisoptionen für die Opposition möglichst unattraktiv machen. Sämtliche Oppositionsparteien zeigten sich unbeeindruckt. Im “Sechser-Bündnis” treten die vier kleinen Parteien auf CHP-Listen an und umgehen somit die Nachteile aus der Änderung der Wahlgesetze. In 16 von 87 Walkreisen, in denen die Oppositionsparteien getrennt keine Mandate erlangen können, treten CHP und IP auf gemeinsamen Listen an. 

Die HDP steht auch bei dieser Wahl unter starker Beobachtung. Nachdem die Mitglieder der Partei in ihrer Historie bereits mehrfach mit „Politikverboten“ und Parteischließungen konfrontiert waren, droht auch nun ein gerichtlicher Prozess, der auf drei Tage vor der Wahl terminiert wurde. Da bereits im Vorfeld das Risiko einer Parteischließung, damit einem Ausschluss von der Wahl, bestand, reagierten Funktionär*innen der Partei und begaben sich in die Strukturen einer existierenden Kleinstpartei, YSP (Grüne Linke Partei). Daher wird die HDP zur Wahl am 14. Mai nicht antreten und ihre Kandidat*innen zur Parlamentswahl sind auf der Wahlliste der YSP vertreten. 

Bereits an der Aufstellung der jeweiligen Oppositionsparteien wird deutlich, dass es sich nur um eine historische Wahl handeln kann. Denn auch die Regierungsparteien kommunizieren offensiv die aus ihrer Sicht historische Bedeutung dieser Wahl, da es der offizielle Eintritt der Nation in das zweite Jahrhundert ihrer Existenz bedeute. Obwohl das Kabinett offiziell nur aus Mitgliedern der AKP und Parteilosen besteht, wird die Regierung durch die MHP im Parlament unterstützt. So gründeten die islamistisch-nationalistische AKP und die rechtsextreme MHP bereits zur vergangenen Wahl die sogenannte „Volksallianz“ und traten zu dieser auch als solche an.  

Der Wahlkampf

Wie aufgeladen der aktuelle Wahlkampf ist wird auf Social Media Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube deutlich. Die Parteien versuchen teils durch Aufklärung, teils durch polarisierende Inhalte die Menschen im In- und Ausland zu erreichen. Dabei geht es ihnen vor allem um eine Gruppe: Erstwähler*innen. 

Denn zur diesjährigen Wahl werden über 5 Millionen Menschen erstmals an einer Wahl teilnehmen können. Sie seien die entscheidende Gruppe an Menschen, wie insbesondere die Opposition zu betonen versucht. Aus diesem Grund greifen die Parteien neben inhaltlichen und personellen Positionierungen auch auf Videos zurück, die bei Erstwähler*innen auf Sympathie stoßen sollen. So ist einer der aktuell bekanntesten Beiträge auf Social Media der Tanz des Oppositionspolitikers Muharrem Ince.  

Auch wenn dessen Rolle im Wahlkampf noch ungeklärt ist, da er einerseits als Präsidentschaftskandidat antritt und andererseits deutlichere Positionierungen gegen die Opposition findet als gegen die aktuelle Regierung, ist er ein beliebter Politiker in der Türkei. Ince war zur Wahl 2018 noch als Präsidentschaftskandidat der CHP angetreten, hat die Partei jedoch vor einiger Zeit aus Unzufriedenheit über den sozialdemokratischen Kurs verlassen, um selbst eine kemalistisch-nationalistische Partei zu gründen. Er erreicht viele junge Menschen, die sich nach einem neuen Politikstil sehnen. Er weiß, wie er sie erreichen kann und baut seine Reichweite über Social Media immer weiter aus. Von den großen Oppositionsparteien wird Ince als „Spalter“ gesehen, da sie betonen, wie wichtig es ist, dass die Stimmen zur Abwahl von Erdoğan innerhalb der Opposition nicht geteilt werden sollten. In seiner Rolle als Kandidat 2018 betonte er noch die Relevanz dieser Einheit und, dass er sich nicht gegen diese stellen wolle. Auch auf diese Äußerungen blicken viele Türk*innen mit Verwunderung und Unverständnis zurück. 

Aktuell tauchen auf TikTok immer mehr Videos von jungen Menschen auf, die Ängste zum Ausdruck bringen. Sie sagen, dass sie von ihren Eltern unter Druck gesetzt würden, um ihre Stimme der Regierungspartei AKP und Erdoğan zu geben. Um dabei sicher zu gehen, sollen die jungen Wähler*innen Fotos in der Wahlkabine machen und beweisen, dass sie die vermeintlich „richtige“ Wahl getroffen hätten. Obwohl diese Äußerungen am Demokratieverständnis in der Türkei zweifeln lassen, wird ein weiterer Nutzen von Social Media deutlich. Erstwähler*innen und junge Menschen vernetzen sich auf den unterschiedlichen Plattformen und bieten einander Lösungsstrategien. So zeigen neuere Videos, wie junge Leute Internetseiten erstellt haben, die ihnen dabei helfen sollen, ihren Eltern eine bestimmte Stimmabgabe vorzumachen. Sie können wählen, wem sie ihre Stimme abgegeben haben sollen und bekommen so ein Bild von einem Wahlzettel, den sie ihren Eltern vorzeigen können. Dieses Beispiel soll letztlich zeigen unter welchem Druck die Menschen in der Türkei stehen, explizit junge Menschen. Neben Zukunftsängsten und dem Wunsch nach Veränderung und Demokratisierung im Land, stehen sie unter großem Druck durch ihre Familien, aber auch durch die gesamte Gesellschaft. Immer mehr junge Menschen sind arbeitslos und leiden unter den wirtschaftlichen Umständen des Landes. Dies führt dazu, dass ein Narrativ der „faulen Jugend“ entstand, das insbesondere von den Regierungsparteien bedient wird: Sie seien nicht gewillt zu arbeiten, sonst ginge es der Wirtschaft viel besser. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaft, Politik und Familie befinden sich aktuell sehr viele junge Menschen, die in der Abwahl von Erdogan die Chance zur Besserung sehen und sich nach einer Veränderung ihrer eigenen Lebensumstände sehnen. 

Gespräche mit den Menschen vor Ort zeigen, dass eine große Sehnsucht nach Demokratie und Teilhabe herrscht. Gleichzeitig betonen dieselben Leute, dass sie womöglich noch gar nicht wissen, was das bedeutet. Eine Person schilderte es wie folgt: „Wir sind in einem Land, in dem die Menschen einzelnen Parteien hinterherlaufen als wären sie Fans von Fußballmannschaften. Die Leute haben keine Ansprüche an Parteien, sehen nicht, dass Demokratie mehr ist als die Wahl einer Führungsfigur.“ Diese Äußerungen beschreiben im Kern die Umstände der Wahl und des Wahlkampfes ganz gut. Die politischen Strukturen und das Staatssystem wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr darauf ausgelegt, dass einzelne Personen Macht erlangen können. Auch das Referendum, das dem Präsidenten Erdoğan umfassende Macht zusichern konnte, ist Ausdruck dessen. Häufige Äußerungen von Erdoğan-Wähler*innen sind, dass sie in ihrem Präsidenten einen mächtigen Repräsentanten in der Welt sehen und die Umstände im Land nicht seine Schuld seien. Dabei fehlt häufig die Erkenntnis, dass Politiker*innen nicht nur Führungspersönlichkeiten sind, sondern den Auftrag haben für ein besseres Leben zu sorgen.  

In den Wahlkampfstrategien wurde dieser Missstand sehr deutlich, da Inhalte immer wieder in den Hintergrund rückten und der Personenkult im Vordergrund stand. Die politische Kommunikation wurde darauf ausgelegt, einzelne Personen zu diffamieren, ohne auf deren konkreten Inhalte einzugehen. Bei der diesjährigen Wahl scheint sich dieser Umstand etwas geändert zu haben. Auch wenn der Personenkult weiterhin existent ist und insbesondere die Regierung auf die Diffamierung ihrer Kontrahenten setzt, betont die Opposition, dass es ihr in erster Linie um die Inhalte und die Implementierung demokratischer Strukturen ginge. Womöglich ist diese Veränderung auch dem Zusammenschluss großer Oppositionsparteien geschuldet, da die einzelnen Parteien zwar ihre Führungspersonen positionieren, jedoch auch ein inhaltliches Profil ausarbeiten wollen, um nicht hinter dem allseits präsenten Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu unterzugehen. Dennoch wird der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu bereits jetzt als nächster Präsident des Landes gefeiert und steht im Personenkult als Gegenbild zu Erdoğan. Kılıçdaroğlu ist nahbar, lebt ein bescheidenes Leben und wird als ehrlicher Mensch beschrieben. Mit ihm tritt zudem erstmalig eine Person für das höchste Amt des Staates an, die zur Minderheit der Alevit*innen gehört. Er dreht immer wieder kurze Videos, in denen er seine Agenda beschreibt und nutzt Social Media als Sprachrohr.  

Vor kurzem lädt Kılıçdaroğlu ein fünfsekündiges Video mit dem Titel „Das kürzeste Video“ hoch und sagt schlicht: „Wenn du heute ärmer bist als gestern, ist der einzige Grund Erdoğan“. Damit spricht er das aus, was sich bereits viele Menschen in der Türkei denken, jedoch nicht trauen zu sagen und so wirken die meisten seiner Videos. Sie sind bescheiden, schlicht, gehen bis zu 5 Minuten, platzieren täglich die Inhalte der Opposition und werden millionenfach gesehen. Er gilt als Sprachrohr der Opposition und bedient die Sehnsucht nach inhaltlicher Veränderung. Im Kern geht es dabei um folgende Punkte: wirtschaftlicher Aufschwung durch Unabhängigkeit und struktureller Stärkung der eigenen Ressourcen, faire Löhne, Abschaffung des Präsidialsystems und Demokratisierung. Die Botschaften sind einfach und wirken schon fast selbstverständlich. 

Dann ist da aber noch ein weiteres Thema: Geflüchtete. In der Türkei herrscht ein großes Misstrauen gegenüber Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan und die Opposition geht bewusst verstärkt auf dieses Thema ein. In Straßenumfragen betonen die Wähler*innen immer wieder, dass es für sie das wichtigste Thema sei. Dass dabei die Geflüchteten lediglich als Projektionsfläche für die gescheiterte Politik Erdoğans und der Europäischen Union dienen, reflektiert dabei niemand. Die Opposition sagt bei öffentlichen Auftritten häufig „Welt, wir sind nicht dein Flüchtlings-Camp“. Das Narrativ, was dabei bedient wird, ist, dass Geflüchteten Gelder zur Verfügung stünden, während es den „eigenen Leuten“ immer schlechter ginge, weswegen man Geflüchtete ausweisen müsse. Dass diese Erzählung aus jungsozialistischer Sicht als äußert problematisch angesehen werden muss, steht außer Frage und muss letztlich auch in der Kritik gegen die Maßnahmen der Europäischen Union münden. 

Die Türkei steht insgesamt an einem wichtigen Punkt ihrer Geschichte und die kommende Wahl ist der Scheidepunkt der türkischen Demokratie. Dass dabei innerhalb der Opposition die politische Linke ähnlichen Zuspruch erhält wie die nationalistische Rechte, bleibt jedoch zumindest beobachtungswürdig. Geeint ist die Opposition jedoch an dem Punkt, dass es ihr um mehr Demokratie und bessere Lebensumstände geht. Insbesondere die Jugend ist diesem Traum einer besseren Zukunftsperspektive zugeneigt und wird letztlich die wahlentscheidende Generation werden. Kılıçdaroğlu und die Opposition machen eines für die Menschen im Land besonders deutlich: „Wir versprechen dir, der Frühling wird kommen. Wir versprechen dir, die Hoffnung wird nicht enden.“ 

Als politische Jugendorganisation setzen wir uns weltweit für die Demokratie und gegen Autokratien ein. Wir unterstützen den Kampf der jungen Menschen in der Türkei für den demokratischen Wandel. Im Sinne der internationalen Solidarität rufen wir NRW Jusos alle türkischen Staatsbürger*innen dazu auf die sozialdemokratischen Parteien der Türkei zu unterstützen und ihren Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu zu wählen. 


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